Jene, "die die Gastfreundschaft der tschetschenischen Behörden ignorieren, verlieren die Fähigkeit, dieses Schlüsselereignis im Leben des tschetschenischen Volkes qualifiziert zu beurteilen". Für diese Erklärung des russischen Außenamtssprechers Alexander Jakowenko müsste man noch schnell einen Sonderpreis anlässlich der Frankfurter Buchmesse mit ihrem diesjährigen Schwerpunktthema Russland stiften. Zu vergeben für politischen Zynismus in feingedrechselten Phrasen.

Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen sind seit dem Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges 1999 rund 2000 Zivilisten in der russischen Kaukasusrepublik verschwunden. Männliche Tschetschenen zwischen 14 und 70 Jahren werden von den Russen grundsätzlich als potenzielle Terroristen betrachtet.

In den vergangenen Monaten wurden die Säuberungsaktionen immer stärker von Kommandos im Verantwortungsbereich von Achmed Kadyrow übernommen. Eben dieser von Moskau eingesetzte bisherige Verwaltungschef, ein gewendeter einstiger Unabhängigkeitsbefürworter, wurde schon wenige Stunden nach Schließen der Wahllokale am Sonntag zum Sieger der Präsidentenwahl erklärt.

Ob der Wahlvorgang selbst auch nur einigermaßen regulär war, ist völlig irrelevant. Zum einen, weil er in einer systematisch erzeugten Atmosphäre der Einschüchterung und Bedrohung stattfand. Zum anderen, weil es eben keine Wahl gab, nachdem Moskau alle ernsthaften Gegenkandidaten zu Kadyrow ausgebootet hatte.

Unter diesen Voraussetzungen weigerten sich internationale Organisationen wie Europarat und OSZE, die Wahlen zu beobachten. Wenn Moskau nun bedauert, dass "die Gastfreundschaft der tschetschenischen Behörden" nicht in Anspruch genommen worden sei, dann ist das nicht nur wegen der Bedrohungslage blanker Zynismus: Das Tschetschenien-Mandat der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

(OSZE), das mit Jahresende 2002 ausgelaufen ist, wurde wegen des Widerstands Moskaus nicht erneuert.

Mit der inszenierten Wahl vom Sonntag, der ein ebenso inszeniertes Referendum im März voranging, soll das Problem nun auch im russischen Kontext niedriger gehängt werden. Gelöst ist es nach den Worten von Kreml-Chef Wladimir Putin ohnehin durch das Referendum, mit dem die Zugehörigkeit Tschetscheniens zur Russischen Föderation unwiderruflich festgeschrieben worden sei. Wie es in der Kaukasusrepublik jetzt weitergeht, das ist eben eine innertschetschenische Angelegenheit. Und insofern Russland betroffen ist, eine Sache der Terrorbekämpfung.

Putin will den Krieg loswerden, den er 1999 als damaliger Regierungschef begann und der ihn so populär machte, dass er schon bald als logischer Nachfolger von Präsident Boris Jelzin feststand.

Heute sieht das etwas anders aus, auch wenn Putin um seine Wiederwahl im Frühjahr 2004 nicht bangen muss. Aus der als schneller Feldzug konzipierten Operation ist ein Guerillakrieg geworden, in dem fast täglich russische Soldaten fallen. Auf tschetschenischer Seite hat eine Radikalisierung stattgefunden: Das Vorgehen der Säuberungskommandos fördert eben jenen Terrorismus, den Russland angeblich bekämpft.

Putins Position als Präsident ist ungefährdet, aber seine Macht weit weniger gefestigt, als es scheint. Das zeigen auch der wachsende Druck des Kreml auf unbotmäßige Wirtschaftsbosse und die De- facto-Gleichschaltung aller Fernsehsender. Der Tschetschenienkrieg, an dem viele Leute im Beziehungsgeflecht zwischen Militär, Geheimdiensten, Bürokratie und Wirtschaft auch persönliche materielle Interessen haben, bedeutet da eine zusätzliche Belastung.

Der Herr im Kreml möchte sich freispielen. Aber wie er dies versucht, das erinnert doch sehr an jenen berühmten Mann, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen wollte. (DER STANDARD, Printausgabe, 7.10.2003)