Wladimir Kaminer
Mein deutsches Dschungelbuch
€18
256 Seiten.
Manhattan/Goldmann Verlag;
München 2003.

Foto: Buchcover Goldmann
Wo nichts ist, kann auch nichts schief gehen. Der satirische Dichter, der hier in den Niederungen der deutschen Provinz mit den kolumnistischen Sammelbänden Russendisko oder Die Reise nach Trulala in Buchhandlungen und Kulturzentren zwischen Rothenburg ob der Tauber oder Sindelfingen, jedenfalls außerhalb normaler menschlicher Vorstellungskraft vorlesend ein fremdes Wahlheimatland bereist, in dem nicht alle Menschen immerfort nach Berlin ziehen wollen, um ihre Kunst im sozialen Feuchtbiotop Prenzlauer Berg unters schick verlumpte Volk zu bringen, ist vor seinem Erfolg als Statthalter des skurrilen Klischeerussentums in Deutschland von einer Grundvoraussetzung ausgegangen. Die ist noch jedem "Stranger in Paradise" schlecht bekommen. Erstens ist Deutschland als Berlin nicht gleich Deutschland als Chemnitz. Zweitens sehen zwar auch in Dormagen und Grevenbroich alle dank Kleider-Kebab und Kaufhof-Streetwear vordergründig gleich aus wie die Trendjugend am Kurfürstendamm. Wer sich als Forscher der sozialen Umstände auf Lesereisen begibt, um nach der Hauptstadt auch das Land kennen zu lernen, ist aber nicht gefeit vor unerwarteten Entdeckungen und Erlebnissen. Abenteuer wäre übertrieben gesagt. Der Mann heißt Wladimir Kaminer, nicht Jack Bauer.

Wie aber soll man sich zum Beispiel in der Innenstadt von Chemnitz verhalten, wenn man nachts auf der Pirsch nach Eingeborenen vor dem Denkmal von Karl Marx unvermutet auf drei zipfelhaubenbemützte Teilnehmer eines bierernsten Deutschen Gartenzwerg-Kongresses trifft, die hier nach heftigem Alkoholgenuss auf das metallene Monument einer untergegangenen Zivilisation pinkeln? Das Bild mag ein klägliches sein. In der Welt, die der Berliner Russe Wladimir Kaminer bevorzugt beobachtet - nennen wir sie großzügig die unsere -, sind solche Ereignisballungen allerdings dann als ausgemachte Sensation zu werten.

Vor mehr als einem Jahrzehnt von Moskau nach Berlin emigriert, hat der auf Deutsch schreibende Kaminer nicht nur seit Beginn die Gewöhnlichkeit der ganz, ganz kleinen Dinge zu seinem Untersuchungsgebiet gemacht. Mit dem schriftstellerischen Erfolg seiner für Zeitungen, Zeitschriften und das Fernsehen verfassten Kolumnen kamen auch die ökonomischen Lockungen von Lesungen für all jene armen Menschen da draußen außerhalb der Stadtgrenzen von Mitte, die es mangels fehlenden Willens oder fehlender Talente nicht in die Metropole geschafft haben.

Auf seinen Lesereisen werden dem Erfinder der Russendisko, einer heuer dazu veröffentlichten und bis in die feindlichen USA ausstrahlenden Musik-CD und des nach Ivan Rebroff in den 70er Jahren zweiten Russenbooms in Deutschland mittlerweile überall Rosen gestreut. Zwar muss Kaminer grundsätzlich immer an Orten lesen, in denen eine Woche zuvor schon Kollege Harry Rowohlt vorgetragen hat. Während der alte Grummelbart sich aber nach einer Lesung vorzugsweise in der Hotelbar dicht macht, geht Kaminer auf Entdeckungsreise zwischen Bratwurst, ganzjährigen Christkindlmärkten, Sektmarken namens Rotkäppchen, Waldmeister-Süppchen mit Orangenfilet, Himalaja-Wochen in einem Oldenburger Hotel, der Entdeckung von Schweinekäse, dem Problem von Call-Centers und Brandenburger Ausstellungen zum Thema: "Spuren des Bibers. Lebensraum und Lebensweise des munteren Grabenbauers".

In einem einfachen, vom Satzbau her sympathisch ungelenken, in der Ausdrucksweise etwas verstaubten Deutsch, wie man es wohl gelernt hat, wenn man in der Sowjetunion Anfang der 80er Jahre die Fremdsprache seines sozialistischen Brudervolkes lernen musste oder wollte, macht sich Kaminer allerdings niemals lustig über seine Themen.

Hier wird grundsätzlich ein freudig-erstaunter Blick auf eine unbekannte Welt mitten unter uns geworfen, aus der man eine Erkenntnis ziehen kann. Deutschland als Abbild der großen weiten Welt mag zwar einer verrückten Laune unseres Schöpfers entstammen - oder dem aus einem Underberg-Rausch entstandenen Urknall hinten in der Hose. Aber hier im deutschen Dschungel kommt es letztlich nur auf eines an: Artenvielfalt! Jedes Tierchen hat seine Berechtigung in Gottes großem Bauplan. Fotografieren statt eliminieren. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 4./5.10.2003)