Orlando Figes,
Nataschas Tanz
Eine Kulturgeschichte Russlands.
Aus dem Englischen von Sabine Baumann und Bernd Rullkötter.

€ 41,-
720 Seiten
Berlin Verlag
Berlin 2003.

Foto: Buchcover Berlin Verlag
Orlando Figes' neuer Wälzer Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands macht vor allem dies deutlich: Eine notwendigere Geschichte als eine Kulturgeschichte kann es für Russland kaum geben. In keinem anderen Land nämlich war Kultur bestimmender für den Prozess der Selbstfindung, das nationale Selbstverständnis - und damit auch für die Geschichte. Mit der Gründung von St. Petersburg auf den Sümpfen am Finnischen Meerbusen im Jahre 1703 entwickelte dieses sich in Russland, schwankend zwischen Minderwertigkeitskomplex und Sendungsbewusstsein, aus der Spannung zwischen europäisierten Oberschichten und russischen Bauern, dem luftigen St. Petersburg und dem bodenständigen Moskau, Europa und Asien. Westler, Slawophile und Skythen, Monarchisten und Liberale, Orthodoxe, Sektierer und Atheisten - im Streit um das "wahre Russland" hatte jeder ein anderes Konzept. Klar war nur, dass es in der Kultur zu suchen und zu finden war.

"Da es in Russland während der letzten 200 Jahre weder ein Parlament noch eine freie Presse gab", schreibt Figes, "dienten die Künste als Forum für politische, philosophische und religiöse Debatten. (...) Der übergreifende Gegenstand all dieser Werke war Russland - sein Wesen, seine Geschichte, seine Sitten und Gebräuche, seine geistige Substanz und sein Schicksal. (...) Nirgendwo sonst wurde dem Künstler so unerbittlich die Pflicht aufgebürdet, ein moralischer Anführer und Prophet des Landes zu sein, nirgendwo sonst wurde er vom Staat mehr gefürchtet und verfolgt."

Kunst und Kultur - mit diesen Begriffen hat Figes weniger den ästhetischen Wert als den Einfluss von Künstlern, Strömungen und Werken im Blick, die Ideen und Einstellungen, für die sie stehen. Bäuerliches Kunsthandwerk, die Rituale der sibirischen Schamanen, mongolische Traditionen oder kaukasische Trachten stehen auf diese Weise als Zeugnisse nationalen Selbstverständnisses in einer Linie mit den Gedichten Puschkins oder den Symphonien Schostakowitschs.

Der titelgebende Bauerntanz der adeligen Natascha Rostowa in Tolstois Krieg und Frieden dient dabei als Schablone. Denn: Es gab gar keinen authentischen russischen Bauerntanz - außer in Tolstois Vorstellung. Melodien und Texte der so genannten Bauernmusik stammten in Wahrheit aus den Städten - ebenso wie die berühmte Matrjoschka, die russische Schachtelpuppe. Wenn ein Großteil jeder Kultur aber erfunden oder "von woanders her importiert ist, so steht Nataschas Tanz gleichsam symbolisch für die Sichtweise dieses Buches: Es gibt keine einzige wahre Nationalkultur, allenfalls mythische Bilder von ihr." Zum Beispiel die Erstürmung des Winterpalastes 1917, die in Wirklichkeit nicht annähernd so spektakulär ausfiel wie in Eisensteins Revolutionsfilm "Oktober".

Glücklicherweise geht es Figes aber nicht bloß darum, Mythen zu dekonstruieren oder als intellektuelle Konstruktion zu enttarnen, sondern vielmehr darum, das spezifisch Russische in diesem Kulturschaffen aufzuspüren. Nicht als umfassende historische Darstellung, sondern als Interpretation. Seine Kulturgeschichte wird somit zu einem Lehrstück für die Wirkmächtigkeit von Fantasien und Projektionen auf die geschichtliche Realität an einem Präzedenzfall: Russland. Einem Land, wo die kulturelle Elite mehr Einfluss besaß als anderswo und etwa die 1852 erschienenen Aufzeichnungen eines Jägers von Turgenjew maßgebend dazu beitrugen, die öffentliche Haltung gegenüber der Leibeigenschaft zu verändern. Ebendiese Elite verachtete aber, so Figes, mehr als anderswo Handel und Kommerz und nahm somit Russland die Möglichkeit, "den kapitalistisch-bürgerlichen Weg zu beschreiten".

Stand das 18. Jahrhundert unter dem Diktat des Aufholens zum Westen, um nicht zu sagen dessen Nachahmung, so gewann ab 1812 mit dem Sieg über Napoleon - wie überall in Europa - das romantische Interesse an der Volkskultur Oberhand. Die Dichter, allen voran Puschkin, entwickelten erstmals eine nationale Literatursprache, und die Narodniki, die Volkstümler, strömten zu Tausenden aufs Land, um mit dem Bauern zu leben, den Bauern "kennen zu lernen" - den Mythos Nummer eins dieses Jahrhunderts. Ihm versuchten die unterschiedlichsten Forschungsgebiete auf die Spur zu kommen, ihm wurden alle nur denkbaren Tugenden zugeschrieben, die dann flugs zum Nationalcharakter erklärt wurden - vom altruistischen Dulder bis zum freiheitsliebenden Kämpfer. Nur der Bauer selbst wurde allem Anschein nach nicht dazu befragt . . .

Erst Tschechow, der unverbesserliche Realist unter den russischen Autoren, befreite, so Figes, in seiner Erzählung Die Bauern (1897) "dieses aufgrund seiner Armut brutale und verrohte Wesen von der Bürde als Botschafter moralischer Lehren für die Gesellschaft" - was natürlich einen kleinen Skandal auslöste. Der Kommunismus siegte nicht, wie eine gängige Lehrmeinung besagt, paradoxerweise in diesem rückständigen Agrarland, sondern konnte hier gerade wegen der egalitären Traditionen der russischen Bauern (die Marx nicht einmal lesen konnten) Fuß fassen.

Wenn auch Nataschas Tanz nicht immer die Wucht und die atmosphärische Dichte von Figes' Aufsehen erregender Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924 (dt. 1998) besitzt - die Fülle an Informationen, die unzähligen Anekdoten und klug ausgewählten Lebensgeschichten machen auch dieses Werk, geschrieben in bester angelsächsischer Wissenschaftstradition, zu einer spannenden Lektüre, die es wert ist, in den Kanon der Einführungswerke eingereiht zu werden. Zu Recht wird neben den unvermeidlichen Unvollständigkeiten auch diesmal das Ignorieren deutschsprachiger Forschung beklagt werden, aber immerhin scheint sich der Autor die Kritik zu Herzen genommen zu haben, Frauenschicksale zu vernachlässigen.

Leider hat Figes der Verschiebung und Zersplitterung der zentralen Konfliktlinien mit Beginn der Revolution keinen neuen Maßstab entgegenzuhalten - der schwächere Teil des Buches über die Sowjetzeit, endend mit der Breschnjew-Ära, wirkt etwas impressionistisch. Kunst und Kultur, in der Sowjetunion unter dem Diktat einer Gruppe stehend und im Exil gefangen zwischen Überlebensinstinkt und Heimweh, waren jedenfalls nicht länger Ergebnis von Wechselwirkungen und deshalb auch nur noch beschränkt entwicklungsfähig. Nur die Mythen, neue und alte, spielten weiterhin ihre angestammte Rolle. Während der sowjetische Künstler zum Chronisten von Erzählungen verkam, "die bereits in der eigenen Folklore der Partei existierten", beschäftigte sich der Exilant nur zu oft mit der Erfindung eines nostalgischen Russland, das so nie existiert hatte.

Der sagenhafte Stellenwert der Kunst aber blieb. Immer noch näherten sich Menschen Büchern wie Heiligengeschichten, wie der Wahrheit. "Weshalb beklagst du dich?", pflegte Mandelstam in den 30er-Jahren Freunde zu fragen. "Nur bei uns achtet man die Dichtung (...). Nirgends sonst werden für sie mehr Menschen getötet." "Die Dichter haben immer Recht, die Geschichte ist auf ihrer Seite", verwandte sich Nikolai Bucharin kurze Zeit später bei Stalin für den verurteilten Dichter. Aber obwohl Stalin die Macht der Dichtung ebenfalls fürchtete - sein eigener Machtwille war auch hier stärker. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 4./5.10.2003)