Stephan Wackwitz
Ein unsichtbares Land
€ 19,90/288 Seiten
S. Fischer, Frankfurt 2003.

Foto: Buchcover
Südafrika 1939. Andreas Wackwitz, ein deutscher evangelischer Pastor, der aus einem kleinen deutsch-polnischen Dorf bei Auschwitz (das noch nicht war, was es später wurde) in dieses Land gekommen ist, macht sich mit seiner Familie auf den Rückweg nach Europa. Doch sein Schiff wird auf hoher See aufgebracht, die Familie kommt in britische Gefangenschaft. Gustav, einem der Söhne des Pastors, wird eine Kamera mit Familienbildern abgenommen. Jahrzehnte später bekommt er sie unverhofft zurück - die Bilder sind zwar vernichtet, die Erinnerungen daran aber noch vorhanden: Das ist der Auftakt des Familienromans von Stephan Wackwitz - Gustavs Sohn und Andreas' Enkel -, die Initialzündung für die schreiberische Erkundung der Familien-Vergangenheit.

Der mürrische und verschlossene Großvater, mit dem der heranwachsende Enkel Stephan im Stuttgart der sechziger und frühen siebziger Jahre nicht viel anfangen kann, ist die Schlüsselfigur des Buches. Er hat später in seinem Leben - nach dem Krieg - in einer umfangreichen Erinnerungsarbeit seine Lebensgeschichte aufgeschrieben. Die hat Stephan Wackwitz gelesen und aufgearbeitet. In einer unglaublich anregenden und spannenden historischen Tiefenbohrung dringt er mit seinem Buch nun in die deutsche Geschichte und Geistesgeschichte vor und versucht zu ergründen, welche geistigen Traditionen das Denken seines Großvaters einst geprägt haben.

Mit seinem Roman unternimmt Wackwitz auch eine Reise in jene Jahre, als er für Rudi Dutschke und die so genannte 68er Bewegung schwärmte. Heute allerdings betrachtet er diese Zeit aus der Distanz eines Intellektuellen, der sich über die historischen Zusammenhänge im Klaren ist und weiß, dass dieser "linksradikale Karneval" eine verspätete Antwort auf die Konstellation im Leben seines Großvaters und auch seines Großvaters Generation war. Er beschreibt sehr genau, wie in seiner Generation ganz ähnliche fanatisch-prophetische Bewegungen Deutschland geprägt und in eine große Krise gestürzt haben wie einst die deutschnationalen Ideen seines Großvaters.

Stephan Wackwitz, der heute das Goethe-Institut in Krakau leitet, hat ein Buch geschrieben, das mehr als nur eine der vielen Auseinandersetzung mit der Kriegsgeneration ist. Es ist ein facettenreiches Porträt der bundesrepublikanischen Realität, die für viele ein meist ebenso unsichtbares Land ist wie die eigene Vergangenheit. Die Leistung Wackwitz' ist es daher, dem Leser anhand seiner Familie plausibel zu machen, wie Deutschland wurde, was es ist. Und das ist spannender als so mancher Krimi. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe, 27./28. 9.2003)