Jetzt geht es in der Kulturhauptstadt wieder einmal ganz heftig mit dem los, das man gemeinhin als Neue Musik bezeichnet. Wie immer das, was heuer unter diesem Label geboten wird, auch tönen mag - so schrill, dass es einem die Schuhe auszieht, oder zum Wegschlafen freundlich -, so ist doch eines sicher:

So neu kann die neue Neue Musik gar nicht sein, als dass sie nicht auf durch wohl trainierte kulturpolitische Korrektheit gebotene grundsätzliche Gewogenheit stieße.

Das war in Graz natürlich nicht immer so. Da ging es vor einem halben Jahrhundert etwa noch ganz unkulturhauptstädtisch zu.

Weil man stets bei der Wahrheit bleiben soll, muss natürlich gesagt werden, dass etwa die Werke der Zweiten Wiener Schule - übrigens nicht nur in Graz - auch heute noch nicht zu den ganz großen Aufregern zählen, vor deren Aufführungen die Leute an den Kasse Schlange stehen.

Doch die Premiere von Alban Bergs Lulu, die der Grazer Karl Böhm Mitte der 50er-Jahre an der Wiener Staatsoper als deren Direktor in den Spielplan zu nehmen und zu dirigieren wagte, löste in der murstädtischen Idylle geradezu wütende Proteste aus.

In der Tagespost erschien denn auch eine vor heiliger Empörung dampfende Kritik. Und sogar im Professorenkollegium des ehrwürdigen Steiermärkischen Landeskonservatoriums griff die moralische und ästhetische Beunruhigung um sich. Die Dodekafonie wurde ziemlich konsequent geächtet.

Gerade rechtzeitig (1958) war damals ein Buch erschienen, dass für die Grazer Berg- und Schönbergfeinde zur Bibel des gesunden Musikempfindens erhoben wurde. Schon sein Titel - Musik in der Zwangsjacke - war Balsam für die aufgewühlten Herzen der Antilulufraktion.

Der Autor hieß Alois Melichar (1896- 1976), dem im Jahr 1934 durch eine geschickte Chopin-Bearbeitung für den Ernst-Marischka-Film Abschiedswalzer ein lukrativer Hit gelungen war. Bei seinen Besuchen in Graz genoss er beinah die Verehrung eines Heiligen.

Und die heile Welt des geheiligten Wohlklangs wurde auch von den etablierten Konzertveranstaltern nur in Einzelfällen und höchst zaghaft verstört. Franz Schmidts Buch mit sieben Siegeln galt damals schon als neutönerisch, ganz zu schweigen von Igor Strawinsky, der damals im Wiener Konzerthaus immerhin schon höchstpersönlich gemeinsam mit Jean Cocteau seinen Ödipus rex präsentierte.

Eine Frage bleibt auch angesichts dieser sehr an die Vorgänge in Krähwinkel erinnernden Reminiszenzen freilich offen, nämlich jene, was nun den Fortschritt eher provoziert und ästhetisch mehr animiert: ein manifestes Protestpotenzial, das dem bekämpften Neuen enorme Schubkraft abfordert, oder das laue "anything goes" von heute. (DER STANDARD, Printausgabe, 27./28.9.2003)