Ganztagsschule, Gesamtschule, zwei Begriffe aus der Pädagogik bringen die Verantwortlichen für eine österreichische Schulreform gehörig aus dem Konzept. Was ist passiert?

Befund: Problemfelder haben sich eröffnet, die aus gesellschaftlichen Veränderungsprozessen resultieren. Zum einen gibt es weniger Kinder, wir erleben einen Alltag, bei dem sich das Familienleben auf den späten Nachmittag verlagert und wir brauchen ein Schulsystem, das für die Anforderungen der Zukunft bereit ist.

Dem zu begegnen wird vom Bildungsministerium eine Zukunftskommission eingerichtet, die mit der Konzeption einer Schulreform beauftragt ist. Also tatsächlich "Schule neu denken"! Dies wird von steirischen Politikern (vielleicht irrtümlich) als Einladung zu einer Reformdiskussion aufgefasst.

Politische Stammtische als Beitrag zur Meinungsfindung sind die Folge. Denn zu dieser Reform können Experten und Betroffene viel beitragen. Drei solcher Stammtische/Fokusgruppen sind bereits aktiv: in Graz, in Weiz und in Knittelfeld. Hundert Personen (Eltern, Lehrer, Schüler, Politiker, Verantwortungsträger im Schulbereich) entwickeln Vorschläge und Anregungen für eine neue Schule. Ein Meinungsforschungsinstitut protokolliert jede einzelne Meldung und erarbeitet eine erstaunliche Analyse, aus der sich folgern lässt: Gefragt sind Schulautonomie, Evaluation der Lehrer, modulares Schulsystem für bessere Übergänge, Ganztagsschule, Gesamtschule, Definition von Bildungszielen, ... um nur einige Punkte zu nennen.

"Ganztagsschule und Gesamtschule" erhitzen die Gemüter. Ein Tabubruch wird konstatiert, die profunde Diskussion über Schultypen bleibt aus, Etiketten werden aufgeklebt und die Ideologiekeule geschwungen, Mechanismen, die nicht erlauben, einen freien Blick auf den Inhalt zu werfen und das Potenzial zu erkennen, das darin steckt.

Wie kann sich nun aber der Bürger beteiligen, wenn Gesprächsverweigerung, Etikettierung und Ideologisierung ihm seine politische Stimme nehmen? Ein frustrierendes Erlebnis.

Utopische Alternative?

Bürgerbeteiligung beschränkt sich bisher üblicherweise nur auf Wahlbeteiligung. Zwischen den Wahlen ist nicht einmal eine indirekte Mitsprache möglich, denn selbst die Formen der direkten Demokratie (Volksbefragung und Volksabstimmung, ...) sind vielfach nur Aufputschmittel, die die Meinung des Bürgers nur quantitativ messen. Muss man sich damit abfinden, dass Bürgerbeteiligung ausschließlich nach einer getroffenen politischen Entscheidung auf bloßes Ja-oder Neinsagen beschränkt und bestenfalls in einer Sonntagsumfrage vor der Wahl Platz hat?

Setzen wir einen Gedankenansatz dagegen. Man stelle sich nochmals vor, die hundert Bürgerinnen und Bürger äußern ihre Meinung, diese wird von einem Meinungsforschungsinstitut ausgewertet, aufgrund der Thesen setzt eine breite gesellschaftliche Diskussion ein, in die sich Politiker involvieren. Es würde also plötzlich Qualität - konkreter, die inhaltliche Auseinandersetzung - ins Zentrum des Interesses gerückt.

Dies würde in einem überzeugend großen Rahmen geschehen und als "Prinzip der qualitativen empirischen Bürgerbeteiligung zur Entscheidungsfindung in einer gesellschaftspolitischen Problemstellung" gesetzlich verankert. Ein demokratisches Utopia? Wie utopisch ist es, Küken auszubrüten?! (DER STANDARD, Printausgabe, 13./14.9.2003)