In rund 15 Jahren ist Indien das bevölkerungsreichste Land der Welt. Da Chinas Wachstum bereits an seine Grenzen stößt, könnte es schon bald zur wichtigsten Konjunkturlok der Weltwirtschaft werden.

Wenn 800 Millionen Inder sich daher mit so klarer Mehrheit gegen die langjährige Regierungspartei und für einen charismatischen, aber umstrittenen Oppositionsführer entscheiden, so ist das von großer Bedeutung für die Welt. Vor allem aber ist es eine Weichenstellung für hunderte Millionen Inder, die in bitterer Armut leben.

Denn Indien ist auch jenes große Schwellenland, das im vergangenen Jahrzehnt sein Potenzial am wenigsten ausgeschöpft hat. Statt zu Wachstum, neuen Industriejobs für die Massen und einem besseren Leben für die Mittelschicht kam es zu einer wirtschaftlichen Stagnation, die vor allem die Unterschicht zu spüren bekommt. Daran waren nicht nur die Kongresspartei und die grassierende Korruption schuld.

In der an sich beeindruckenden indischen Demokratie haben zu viele Interessengruppen ein Vetorecht bei notwendigen Entscheidungen. Die Gewerkschaften blockieren die Schaffung neuer Arbeitsplätze, indem sie die bestehenden bis zum Exzess schützen. Kommunen und Bürgerinitiativen stellen sich dem Bau von Straßen, Fabriken und Kraftwerken in den Weg. Und die riesige Bürokratie verteilt Subventionen auf so ineffiziente Weise, dass nur wenig bei den wirklich Bedürftigen ankommt.

Der Sieg der Hindupartei BJP war vor allem eine Absage an die Kongresspartei, die ihre Schlappe wohl verdient hat. Aber ob der neue starke Mann Narendra Modi die erhoffte wirtschaftliche Wende bringen kann, ist offen. In seinem Bundesstaat Gujarat hat Modi die Wirtschaft zwar angekurbelt, aber sein autoritärer Regierungsstil könnte sich in Neu-Delhi schnell totlaufen - trotz absoluter Mehrheit. Und als Gouverneur ist Modi unpopulären Maßnahmen oft aus dem Weg gegangen.

Sein Hindu-Nationalismus und seine Untätigkeit während der antimuslimischen Pogrome vor einem Jahrzehnt sind weitere schwarze Punkte in seiner Biografie. Muslime müssen sich vor ihm nicht fürchten, und viele haben ihn gewählt. Aber wenn er seiner Neigung nachgibt, Gruppen gegeneinander auszuspielen, dann bedroht er die fragile Einheit des Riesenlandes. Und das könnte alle erzielten wirtschaftlichen Fortschritte zunichtemachen.

Aber wenn Modi seine Mehrheit klug nutzt, kann er in den kommenden Jahren die Wachstumsrate Indiens verdoppeln, Millionen Menschen aus der Armut führen und dem Land auch international mehr Geltung verschaffen.

Damit die geschlagene Kongresspartei überleben kann, muss sie sich endlich von der Gandhi-Dynastie abnabeln. Auch das ist wichtig, denn Indien braucht eine nationale Opposition mit einer sozialen und säkularen Agenda. Sonst droht, sobald die Ernüchterung über Modi einsetzt, die Fragmentierung der Politik in viele Regionalparteien. (Eric Frey, DER STANDARD, 17.5.2014)