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In Wien sprach ein Bettler über seine Peiniger.

Foto: APA/HANS KLAUS TECHT

Wien - Gerald Tatzgern kennt alle Facetten des Almosensammelns. Seine Masterarbeit, "Bettelei in Österreich", ist gerade im Akademikerverlag erschienen. Die Unterscheidung zwischen Ausbeutung im Rahmen von Menschenhandel und selbstbestimmtem Betteln ist ihm wichtig, denn Tatzgern ist auch Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung des Menschenhandels im Bundeskriminalamt (BK). Und die hat nach einjähriger Analyse der Bettlersituation in Wien nun einen mutmaßlichen Menschenhändlerring ausgehoben: Insgesamt wurden 430 Personen angezeigt, von 13 mutmaßlichen Hauptverdächtigen befinden sich drei in Wien in U-Haft.

Worte wie "Bettlermafia" kommen in der BK-Analyse nicht vor. Was es aber gebe, seien einzelne kriminelle Strukturen. Dazu gehöre noch nicht, dass viele der rund 1100 Bettler aus Rumänien, Slowakei und Bulgarien in organisierten Gruppenfahrten nach Wien kämen. Auch dass die Bettler einen Teil ihrer Einnahmen abgeben müssten, sei nur bedingt strafrechtlich relevant. Die 130 Euro monatlich für eine von 50 Schlafmatratzen in einer 40-m²-Wohnung sind wahrscheinlich Mietwucher und ein Fall für die "normale" Polizei. Das Bundeskriminalamt schreitet erst dann ein, wenn Ausbeutung die Vitalinteressen von Betroffenen bedroht.

Kronzeuge

Tatsächlich haben die BK-Fahnder einen Kronzeugen ausgeforscht; einen 33-jährigen, körperlich schwer beeinträchtigten Rom aus Rumänien. Der Mann, der sich mittlerweile im Zeugenschutzprogramm befindet, wurde vermutlich zehn Jahre lang zum Betteln gezwungen, die vergangenen Jahre in Wien. Wehren konnte er sich wegen seiner Beeinträchtigung nicht, gefügig soll er mit Gewalt gemacht worden sein. Unter anderem sei er tagelang an einen Baum gebunden worden, bis er den Widerstand aufgab.

Mit 300 bis 1000 Euro pro Tag war er mit Abstand die lukrativste Einnahmequelle seiner nun in U-Haft befindlichen Landsleute. Erhalten hat er nichts. Beim Prozess gegen die mutmaßlichen Menschenhändler - zwei wurden von ihrem Heimatland an Österreich ausgeliefert - wird auch Opferentschädigung beantragt werden. Den Angeklagten drohen zehn Jahre Gefängnis.

Schwertner widerspricht

Die Caritas widersprach am Freitag in einem Hintergrundgespräch Tatzgerns Aussagen. Laut einer Studie würden Bettler zwischen 20 und 30 Euro pro Tag erhalten, Menschen mit Behinderung etwas mehr. Dass das, wie von Tatzgern für einen Fall angegeben, in die Höhe von 300 Euro im Schnitt und 1.000 Euro zu Spitzenzeiten gehen könne, sagte Klaus Schwertner, der Generalsekretär der Caritas der Erzdiözese Wien. "Niemand bettelt aus Jux und Tollerei, es handelt sich um verzweifelte Menschen, die unter unvorstellbar prekären Armutsverhältnissen leben", so Schwertner.

Der Caritas-Generalsekretär betonte, dass es schon jetzt klar geregelt und "entsprechend zu verurteilen" sei, "wenn es in einem Einzelfall um Menschenhandel gehen sollte".

Die 20 bis 30 Euro würden "kaum für ein menschenwürdiges Überleben" reichen, so der Caritas-Vertreter. "Wer hier von mafiösen Strukturen spricht, hat von der Realität keine Ahnung. Menschen, die betteln, geben ihr Wissen weiter, bilden Fahrgemeinschaften, nehmen Sammeltaxis in Anspruch oder teilen sich Wohnungen, weil sie sich die Mieten sonst nicht leisten können. An diesem Verhalten lässt sich nichts Verwerfliches erkennen, es wird aber derzeit als 'organisiertes' Betteln bestraft", betonte Schwertner.

"Vom Betteln wird niemand reich. Hören Sie auf die Bevölkerung zu verunsichern und Bettler zu kriminalisieren!", appellierte Schwertner. Aus Sicht der Caritas sei es völlig unverständlich, warum Betteln unter Strafe steht. "Das einzige, was wir alle tun können, ist, direkt zu helfen - vor Ort in den Herkunftsländern und hier bei uns. Aufmerksamkeit, teilen und ein Stück internationaler Gerechtigkeit sind aus Caritas Sicht die richtige Lösung", sagte der Generalsekretär der Wiener Caritas. (APA, Michael Simoner, DER STANDARD, 17.5.2014)