Dass die Umwege der Liebe unergründlich sind, erfährt Aleksandar Hemon schon im Alter von fünf Jahren, als er seine kleine Schwester Kristina aus purer Eifersucht beseitigen will. Es ist schlicht die Liebe, die ihn daran hindert, ihren winzigen Hals zuzudrücken und sich dadurch wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern zu sichern. "Plötzlich wurde mir klar, dass ich das nicht tun durfte, (...) weil sie mein Schwesterchen war, weil ich sie liebte." Von da an wurde die Geschwisterliebe nie wieder in Frage gestellt, aber für den kleinen Aleksandar galt es auch, sich mit der folgenden Tatsache des Lebens abzufinden: "Nie wieder würde ich die Schokolade für mich ganz allein haben."
Unbeschwerte Jugend
Auf eine weitgehend glückliche Kindheit folgt eine unbeschwerte Jugend in Sarajevo, einer Stadt, die in den 80er-Jahren für sich beanspruchte, etwas Besonderes zu sein, und deren Bewohner sich zum damaligen Zeitpunkt nicht hätten vorstellen können, jahrelang und weltweit für Kriegsschlagzeilen zu sorgen.
Borschtsch: So, wie das Leben sein sollte
Hemon wächst in einer recht typischen und sympathischen Familie auf, in der das kulinarische Erbe der ukrainischen Vorfahren aus Galizien hochgehalten wird. Unter anderem brachten sie ein Rezept für Borschtsch in die neue Heimat mit. "Natürlich existierte dieses Rezept nicht in schriftlicher Form. Sie trugen es in sich, wie ein Lied, das man einmal gelernt hat."
Etwa ein Jahrzehnt später muss Hemon als einsamer Emigrant in Chicago feststellen, dass man guten Borschtsch weder in ukrainischen Restaurants finden noch für sich alleine zubereiten kann, denn es gebe nichts Deprimierenderes als Borschtsch, den man allein löffelt. Kurz gesagt, "ein perfekter Borschtsch ist ein utopisches Essen: Idealerweise ist alles drin, er wird gemeinsam zubereitet und gegessen (...) Ein perfekter Borschtsch ist so, wie das Leben sein sollte, aber nie ist."
Aber wie sollte es denn sein, das Leben? Wie viele Leben haben Platz in einem Leben? Ganz schön viele. Ganz schöne und ganz grässliche.
Künstlerische und revolutionäre Höhenflüge
Die schönen Seiten des Lebens genießt Hemon ausgiebig als Teenager, aufgehoben in einer Gruppe Gleichaltriger ("Raja"), die älteren Burschen nacheifert und sich von jüngeren bewundern lässt. Als Student freundet er sich mit der exzentrischen Isidora an, mit der er auf eine naive Weise von künstlerischen Höhenflügen träumt: "Wir hatten Ideen und Pläne und Hoffnungen, die in ihrer Grandiosität den provinziellen Mief und letztlich die ganze Welt revolutionieren würden."
"Der faschistische Geburtstag"
Die revolutionären Phantasien finden ein jähes Ende, als Isidoras zwanzigster Geburtstag als "der faschistische Geburtstag" in die Stadtmythologie eingeht und für die Gäste ein ernüchterndes Nachspiel hat. Die Staatssicherheit kann der ausgelassenen Feier nichts Komisches abgewinnen. Die Gäste waren nämlich als Kommunisten und Schwarzhemden verkleidet, Sandwiches wurden mit Mayonnaise-Hakenkreuzen verziert und in der Toilette fand eine rituelle Verbrennung von Nietzsches "Ecce homo" statt. Was die Jugendlichen, die in den geordneten Bahnen des sozialistischen Jugoslawiens aufgewachsen waren, sich als Nihilisten bezeichneten und weitgehend bei den Eltern wohnten, als eine systemkritische Satire intendiert hatten, wurde als ernsthafter rechtsextremer Angriff auf die Grundfeste des Staates aufgefasst und entsprechend sanktioniert.
Neues, amerikanisches Leben
Durch einen Zufall entkommt Hemon 1992 knapp der Belagerung Sarajevos, weil ihn ein Stipendium für junge Journalisten kurz vor Kriegsausbruch in die USA führt. Dort beginnt ein neues Leben, ein amerikanisches, das ihm eine neue Sprache, ganz neue Horizonte, privates Glück, aber auch eine familiäre Tragödie beschert.
"Hier ist meine Story"
Aleksandar Hemon erzählt die Geschichte seiner Leben nicht linear. Altes vermischt sich mit Neuem, auf Gefühlsausbrüche folgen Reflexionen. Das Leben ist unbeständig, vor allem das in der Emigration, und dennoch ist da immer eine Sehnsucht nach einem festen Kern. "Der Einwanderer strebt mit Hilfe systematischer Nostalgie – hier ist meine Story! – nach narrativer Stabilität." Hemons auf Englisch geschriebene Story ist es zweifelsohne wert, gelesen zu werden. (Mascha Dabić, daStandard.at, 14.5.2014)