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„Augen zu und durch!“, mag sich Merkel denken, sollte Jean-Claude Juncker die EVP zum Wahlsieg führen und dann einen Anspruch auf den Präsidentenposten untermauern. Die Kanzlerin nimmt ihm krumm, dass er ihr in der Eurokrise zugunsten der Südeuropäer oft widersprach, sie würde ihn aber wohl akzeptieren.

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Freunde werden Martin Schulz und Angela Merkel wohl nie werden. Sollten Europas Sozialisten die EU-Wahl gewinnen, würde Merkel ihn wohl trotzdem gerne als Kommissionschef verhindern: Ihre CDU würde dann erstmals keinen EU-Kommissar in Brüssel stellen können, weil Deutschland nur einen Kommissar haben darf.

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Knapp zwei Wochen vor den Europawahlen hat in Brüssel und in den EU-Hauptstädten der Machtkampf um die Verteilung der wichtigsten Posten in den EU-Institutionen für die nächsten fünf Jahre voll eingesetzt. Im Zentrum des Streits steht dabei die Frage, wem in Zukunft die Rolle des EU-„Regierungschefs" als Nachfolger des konservativen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso zufallen soll: dem Christdemokraten Jean-Claude Juncker aus dem kleinen Luxemburg oder dem Sozialdemokraten Martin Schulz aus dem größten und reichsten Mitgliedsland, Deutschland. Oder einem dritten, bisher nicht bekannten Kompromisskandidaten.

2014 ist alles anders

Nicht wenige der Regierungschefs der Mitglieder fürchten um Macht und Einfluss: starker oder schwacher Kommissionschef; aus einem kleinen oder einem großen Land; einer der die EU-Institutionen stärken will oder der den Nationalstaaten ihre Souveränität absichern hilft; einer aus Ost- oder aus Westeuropa, aus dem Norden oder aus dem Süden;  aus der Eurozone oder von außerhalb dieses neuen finanz- und währungspolitischen "Kerneuropa"; ein Mann oder zum ersten Mal in der Geschichte sogar eine Frau Kommissionspräsidentin  – das waren in der Vergangenheit  die Entscheidungskriterien, nach denen die mit Abstand wichtigste politische Funktion in einer Gemeinschaft aus inzwischen 28 Ländern vergeben wurde.

Eine heikle Personalie. Aber 2014 ist alles anders. Bis 2009 konnten die Regierungschefs hinter verschlossenen Türen praktisch im Alleingang über die Kommissionsspitze entscheiden – und intrigieren und verhindern. Nun räumt der neue EU-Vertrag von Lissabon den Parlamentariern aber ein starkes Mitentscheidungsrecht ein, weil der Wahlausgang bei der Kandidatennominierung berücksichtigt werden muss. Fünf Parlamentsfraktionen und ihre Parteifamilien haben diese neue Lage genützt, um Spitzenkandidaten aufzustellen.

Nachfolger für Van Rompuy

Nur diese wollen die Fraktionen wählen. Das haben sie vereinbart, wobei nur Juncker und Schulz real echte Chancen auf eine Mehrheit haben, der Liberale Guy Verhofstadt maximal eine Außenseiterchance. Die selbstbewussten Premierminister und Staatschefs müssen jedenfalls – vertreten durch den ständigen Ratspräsidenten Herman Van Rompuy – im Plenum in Straßburg in aller Öffentlichkeit argumentieren, warum sie eine oder einen an die Spitze der Kommission stellen. So ist die neue Vertragslage.

Und zusätzlich muss bis Jahresende ein Nachfolger auch noch für Van Rompuy selber gefunden werden, der die EU-Gipfel leitet, ebenso für die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton, deren Amtszeit mit dem Kommissionswechsel Ende Oktober ebenfalls ausläuft.  Es geht also machtpolitisch ums Eingemachte.

Noch dazu, weil der EU-Vertrag vorsieht, dass auch Entscheidungen der Regierungschefs selber zur Kommission nach neuen Spielregeln ablaufen. Sie müssen nicht mehr einstimmig erfolgen, sondern mit qualifizierter Mehrheit. Ein einzelner Premier hat also kein Vetorecht mehr, um einen Barroso-Ersatz so einfach zu verhindern. Käme es zur Kampfabstimmung beim EU-Gipfel, müssten sich gut ein halbes Dutzend kleine Staaten mit dem britischen Premier David Cameron zusammentun, um etwa Schulz oder Juncker zu verhindern.

Konservative nur knapp voran

Der Lissabon-Vertrag macht Europawahlen direkt und indirekt so spannend wie nie zuvor. Dabei sind die rund 370 Millionen wahlberechtigten EU-Bürger zwischen 22. Und 25. Mai formell eigentlich nur dazu aufgerufen, ihre Abgeordneten zu wählen, somit die Stärkeverhältnisse der Parteifamilien bzw. Fraktionen im EU-Parlament in Straßburg neu zu bestimmen. Zwischen der weitaus stärksten Gruppe, der Europäischen Volkspartei (EVP) mit 274 Mandaten, und den Sozialisten (S&D) mit derzeit 195 Abgeordneten zeichnet sich jedoch ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab. In Umfragen liegen die Konservativen nur mehr knapp voran, nicht zuletzt, weil die EU-Skeptiker und die Rechtsextremen wie der Front National in Frankreich  stark zulegen. Prognostiker schließen daher einen Machtwechsel im Europaparlament nicht aus. Kommt es dann weder zu einer Mitte-Links- noch zu einer Mitte-Rechts-Mehrheit, wäre eine große Koalition zwischen EVP und S&D der einzige Ausweg.

Und davon hängt ab, wie die Personalfragen und die "Regierungsprogramme" auf EU-Ebene entschieden werden. Der Wahlsieger unter den Fraktionen hat das Erstzugriffsrecht auf den begehrtesten Posten, der Rest wird je nach Koalitionen und Kräfteverhältnissen verteilt – fast so wie bei Regierungsbildungen nach Wahlen auf nationaler Ebene.

Es zeichnet sich also ab, dass am Ende zwischen den Regierungschefs und dem EU-Parlament ein großes Personalpaket geschnürt, ein allumfassender Kompromiss, mit dem sich alle EU-Staaten irgendwie identifizieren können.

Genau das ist auch der Grund, warum die mächtigste Mitspielerin in der EU, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, vor dem Wochenende betont hat, dass der Sieger der Wahl – Juncker oder Schulz – nicht quasi "automatisch" von den Regierungschefs zum neuen Kommissionspräsidenten nominiert werden wird. Wie so oft in heiklen Fragen taktiert sie, hält sich zurück, lässt sich alles offen, ergreift nicht die Initiative, obwohl Merkel bei einem EVP-Nominierungsparteitag in Dublin auch persönlich Juncker zum Spitzenkandidaten mitgewählt hat.

Zusage von Merkel für Juncker

Das hat in vielen Kommentaren sofort zu der Einschätzung geführt, die Kanzlerin wolle Juncker in Wahrheit gar nicht haben, was dieser umgehend dementierte: Er habe eine Zusage von Merkel, sollte die EVP die Wahlen gewinnen.

Was gilt nun? Vermutlich beides. Merkel hat mit ihrem Statement nur angesagt, dass es wohl schwer werden würde, einen Wahlgewinner Juncker beim EU-Gipfel durchzubringen. Vor allem bei Cameron und in einigen nördlichen Mitgliedsländern gilt der Luxemburger als zu integrationsfreundlich. Schweden, Finnland, auch Dänemark würden gerne ihr eigenes Spiel spielen. Für sie alle ist das Europaparlament mit dem Modell "Spitzenkandidat wird durch unsere Mehrheit Kommissionschef" zu weit gegangen. Sie wollen ein Europa der Staaten erhalten, kein gestärktes Zentrum in Brüssel, wollen den Einfluss der Abgeordneten, einen Machtzuwachs in Straßburg, verhindern. Der  konservative finnische Noch-Premier Jyrki Katainen würde selber gerne Kommissionschef werden, für Juni hat er seinen Rücktritt als Regierungschef angekündigt.

In den EU-Gründerländern im Zentrum, Benelux, Österreich, aber auch in Südeuropa, läuft es eher umgekehrt: Sie könnten mit dem sozialen Christdemokraten Juncker wie mit Schulz gut leben – so wie Merkel wohl auch in letzter Konsequenz. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz war bisher einer der wenigen aus den Regierungen, der das auch offen aussprach: Die Personalisierung des Wahlkampfes durch Juncker und Schulz sei gut gewesen, ein Akt der größeren Nähe zwischen Bürgern und Kommission, der Demokratisierung. Daher werde man das auch nach den Wahlen so halten müssen: Schulz oder Juncker müssten Kommissionspräsident werden, erklärte Kurz, denn „es wäre ein dramatisches Zeichen, vermittle man dem Wähler, er könne über den Kommissionspräsidenten mitentscheiden, und dann muss er zur Kenntnis nehmen, dass es nur ein Fake war" - eine Frotzelei.

Relativierung zielte auf Schulz

Merkels Relativierung der Rolle der Spitzenkandidaten als Favoriten für das Berlaymont, den Amtssitz der Kommission, zielte vor allem auf Schulz. Der EU-Parlamentspräsident, der im Wahlkampf lautstark einen politischen Richtungswechsel nach links verlangt, ist ihr programmatisch wie persönlich suspekt. Die deutsche Kanzlerin will ihren Landsmann verhindern.

Das hat mehrere Gründe, liegt neben parteipolitischen und persönlichen Einwänden vor allem auch am Umstand, dass ein deutscher Kommissionspräsident Schulz ihr innenpolitisch ständig in die Quere käme. Die Union regiert in Berlin noch dazu in einer großen Koalition mit der SPD. Derzeit ist Merkel in Deutschland unbestritten und rekordbeliebt. Ein starker Deutscher in Brüssel kann da ihre Lage nur verschlechtern. Auch für ihre CDU wäre es ungünstig. Deutschland stellt seit dem EU-Vertrag von Nizza nur noch ein EU-Kommissar zu. Merkel würde Günther Oettinger gerne im Amt behalten. Käme Schulz, müsste er den CDU-Vorposten in der EU-Hauptstadt räumen. SPD Chef Sigmar Gabriel hingegen muss auf Schulz bestehen, will er nicht das Gesicht verlieren.

Wie das Ganze ausgeht, dazu wird man 48 Stunden nach dem Wahlsonntag erste Schlüsse ziehen können. Am Dienstag, 27. Mai, treffen sich die Regierungschefs bei einem EU-Gipfel in Brüssel, um über die Nachwahllage zu beraten. Optimisten sagen, schon dabei werde eine Vorentscheidung über Juncker oder Schulz fallen. Pessimisten meinen, man werde so kurz nach der Wahl noch gar nicht geklärt haben, wie die Mehrheitsverhältnisse in Straßburg tatsächlich sind, weil sich bei der Fraktionsbildung noch einige Verschiebungen ergeben könnten.

Schulz war nie Regierungschef

Sollte Juncker Wahlsieger sein, aber im Europäischen Rat auf sehr starken Widerstand stoßen, könnte man ihm als Ersatz den Job als Nachfolger von van Rompuy als Ratspräsident anbieten, glauben Insider in Brüssel. Auf der anderen Seite hat der Luxemburger selber das ausgeschlossen. Er wolle Kommissionschef werden, sonst nichts, betont er derzeit auf allen Wahlkampfbühnen.

In dem Fall könnte dann etwa die dänische Premierministerin Helle Thornig-Schmidt, eine Sozialdemokratin, van Rompuy nachfolgen. Schulz war nie Regierungschef, dieser Posten bliebe ihm wohl verwehrt. Unklar wäre dann aber, was mit Schulz weiter geschehen soll. Zwei Varianten werden für ihn durchgespielt: Er bleibt Parlamentspräsident, oder er wird Ashton-Nachfolger und gleichzeitig Vizepräsident in der Kommission unter Juncker. Letzteres ist weniger wahrscheinlich.

Konservativer EU-Außenminister

Gewinnen die Sozialdemokraten die Wahlen, werden sie für Schulz den Job des Kommissionschefs beanspruchen, ganz klar. Der französische Staatspräsident und Sozialist Francois Hollande würde sich wohl auch für ihn stark machen – es sei denn, dass die Furcht vor dem deutscher Übermachtduo Merkel und Schulz die Südstaaten doch noch die Notbremse ziehen lässt. Wird Schulz aber Kommissionspräsident, käme in dem Fall ein konservativer als EU-Außenminister zum Zug, möglicherweise der Pole Radoslaw Sikorski, obwohl der sich in der Ukraine-Krise sehr exponiert hat, oder der Schwede Carl Bildt.

Im Umfeld von Ratspräsident  Van Rompuy heißt es, es werde nach der Wahl aber eher keine rasche Entscheidung im Personalpaket geben. Er stellt sich auf wochenlange Vermittlung zwischen Regierungschefs und dem EU-Parlament ein. Eine andere Wahl, die in der Ukraine am gleichen Tag, könnte das aber konterkarieren. Sollte diese Wahl  schiefgehen und die Ukraine in einen Bürgerkrieg abdriften, könnte es mit dem Kommissionschef ganz schnell gehen, so wie 1999. Da wurde der Italiener Romano Prodi in einer Blitzaktion gekürt, wenige Stunden vor Ausbruch des Kosovo-Krieges. (Thomas Mayer, derStandard.at, 13.5.2014)