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Der Sultan und sein Hofstaat verließen die Veranstaltung.

 

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Der Präsident tätschelt dem Premier die Hand, und dann wird es ganz schnell ganz peinlich. Abdullah Gül hat vergangenen Samstag seinen politischen Weggefährten Tayyip Erdogan nicht mehr bremsen können. Erdogan riss bei der jährlichen Feier zum Bestehen des Obersten Verwaltungsgerichtshofs (Der danıştay wurde 1868 unter anderem Namen noch im Osmanischen Reich gegründet) in Ankara der Geduldsfaden. "Seit einer Stunde redest du schon", brüllte Erdogan aus der ersten Reihe hinauf aufs Podium. Dort stand Metin Feyzioglu, der Präsident der türkischen Anwaltskammern, und las dem Premier die Leviten: Taksim-Platz für die Kundgebungen zum 1. Mai gesperrt, Internet zensiert, in die Unabhängigkeit der Justiz eingegriffen...

Was Erdogan aber offenbar am meisten ärgerte, war eine Bemerkung über die unzureichende Hilfe der türkischen Regierung für die Opfer des Erdbebens in der (überwiegend kurdischen) Großstadt Van im Oktober 2012. Der türkische Sozialstaat stehe in der Pflicht, die überlebenden Familien zu unterstützen, die immer noch in Containerhäusern lebten, erklärte Feyzioglu. Das ließ Erdogan nicht auf sich sitzen. Rund 17.500 Wohnungen und 6000 Häuser in den Dörfern seien gebaut worden, gab später der Gouverneur von Van an.

Der während der Feier neben Erdogan sitzende Gül versuchte den Regierungschef zu beruhigen, hielt dessen linke Hand und raunte ihm, peinlich berührt, zu, er solle sich nicht aufregen:

Erdogan: Seit einer Stunde redest du schon, jetzt ist Schluss...

F.: Erregen Sie sich nicht, Herr Premierminister...Ich sage .

E.: Du sagst Falsches.

F.: Was habe ich Falsches gesagt, Herr Premierminister? Das hier ist eine sehr konstruktive Rede.

E.: Eine solche Anstandslosigkeit! Das ist unmöglich!

F.: Ich bin es nicht, der eine Anstandslosigkeit begeht, Herr Premierminister.

E.: Du erzählst Lügen...

Als Erdogan aufsteht, macht es ihm die Gefolgschaft sogleich nach: der Sultan und sein Hofstaat. Gül ist auf den Beinen, Armeechef Necdet Özel, der auf Erdogans rechter Seite saß; Zerrin Güngör, die Präsidentin des Obersten Verwaltungsgerichtshofs; die Bodyguards natürlich. Feyzioglu tänzelt ein wenig hinter seinem Rednerpult; ein paar haben noch bei seinen letzten Worten geklatscht. Dann stürmen Erdogan und Gefolge hinaus.

CNN Türk hatte den Zwischenrufer Erdogan am Samstag live gezeigt. Die CNN-Kameraaufnahmen von Erdogan und Gül in der ersten Reihe waren am Sonntag schon verschwunden und mit einem Bericht ohne Nahaufnahmen des Regierungschefs ersetzt; auf der Webseite wurden aber dieselben Einstellungen vom öffentlichen Sender TRT platziert. Folgt man den Reaktionen auf Twitter am Wochenende, findet eine Mehrheit der Türken wohl, dass ihr Regierungschef zu Recht aus dem Saal marschiert ist. Ironische und scherzhafte Kommentare gibt es natürlich, doch die regierungsfreundlichen Sender und die dazugehörige Presse trichtern den Türken ein, dass der 44-jährige Feyzioglu es am nötigen Respekt hat fehlen lassen. Eine politische Rede habe er da gehalten, grummelte Erdogan beim Hinausgehen über Feyzioglu, den Adoptivsohn eines namhaften Jus-Professors und Politikers der kemalistischen Partei CHP. Der Erdogan-Abmarsch ist ein Remake von Davos 2009, als der Premier auf dem Panel nicht seine lange eine Minute für eine Replik bekam. Die Unduldsamkeit des türkischen Regierungschefs gegenüber aller Kritik gibt jedenfalls einen Vorgeschmack auf das, was das Land nach Erdogans absehbarer Wahl zum Staatschef im August erwarten darf... (Markus Bernath, derStandard.at, 12.5.2014)