Grafik: Standard

Wien - Nirgends verliert die Mittelschicht in den Industrienationen so viel an Boden wie in Österreich. "In einigen Ländern ist die Mittelklasse als Folge steigender Ungleichheit geschrumpft", warnt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in einer aktuellen Studie zu fairem Wachstum (Making Inclusive Growth Happen). Die OECD listet dabei Österreich als das Land auf, in dem die gesellschaftliche Mitte seit Mitte der 1990er-Jahre am meisten verloren hat. Auch der Anteil der Mittelschicht am wirtschaftlichen Wohlstand in Australien, Dänemark, Kanada, Frankreich und den USA ist gefallen.

Konkret haben sich die Volkswirte die drei mittleren Fünftel der Haushalte angesehen, das reichste und das ärmste Fünftel also ausgenommen. In Österreich umfasst die so definierte Mittelschicht knapp fünf Millionen Menschen. Sie verdienen weniger am gesamten Einkommenskuchen als Mitte der 1990er-Jahre (siehe Grafik). Hingegen haben sich in aufstrebenden Volkswirtschaften wie in der Türkei und Mexiko im selben Zeitraum neue Mittelschichten gebildet.

Auf Standard-Nachfrage wird das Ergebnis von der OECD relativiert: Die Daten seien wegen unterschiedlicher Erhebungsmethoden schwer vergleichbar, heißt es aus Paris. Allerdings kommen österreichische Ökonomen zu ähnlichen Schlüssen und führen das vor allem auf die steigende Steuerbelastung und das hohe Lohnwachstum bei den Spitzenverdienern zurück.

Hohe Abgabenlast

"Die mittleren Quintile sind steuer- und abgabenseitig relativ stark belastet, seit Mitte der 90er-Jahre ist die Belastung des Faktors Arbeit relativ stark gestiegen", betont Thomas Leoni. Er forscht am Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo zu den Themen Arbeitsmarkt, Einkommen und soziale Sicherheit. Zu diesem Anstieg trägt auch die kalte Progression bei, die dazu führt, dass Einkommensbezieher trotz realen Nullwachstums bei den Gehältern in eine höhere Steuerklasse rutschen können. Die letzte Anpassung der Progressionsstufen ist bereits fünf Jahre her. "Jetzt ist sicher wieder eine Steuerreform fällig", findet Leoni. Das Wifo plädiert seit längerem für eine Strukturreform im Steuersystem.

Laut aktuellen OECD-Daten zählt Österreich zu den drei Ländern mit der höchsten Steuer- und Abgabenbelastung für einen Durchschnittsverdiener. Die Schere zwischen den Brutto-Lohnkosten für den Arbeitgeber und dem Nettoverdienst des Arbeitnehmers macht 49,1 Prozent aus und ist nur in Belgien und Deutschland höher. Während in den OECD-Ländern im Schnitt die Einkommenssteuer seit 2001 um einen Prozentpunkt gefallen ist, ist sie in Österreich um 1,3 Prozentpunkte gestiegen.

Ein weiterer Grund für die relativ schrumpfende Mittelschicht ist die starke Entwicklung der höchsten Haushaltseinkommen. Einerseits zeigen aktuelle Daten des Wifo, dass der Anteil des am besten verdienenden Fünftels am Einkommen seit 1995 um 1,6 Prozentpunkte gestiegen ist. Ihre Gehälter wuchsen im Schnitt um 32 Prozent knapp doppelt so stark wie beim Rest der Bevölkerung. Dazu kommt, dass gerade die Spitzenverdiener ein Gros der Kapitaleinkünfte beziehen, die im internationalen Vergleich niedrig besteuert sind. Indirekte Steuern und Sozialbeiträge würden hingegen niedrige Einkommen überproportional treffen.

Doch auch gute Nachrichten gibt es von der OECD. Im Vergleich zu anderen Ländern wie den USA hat es in Österreich in den vergangenen Jahren kaum eine Steigerung bei der Armutsquote gegeben, während sie im OECD-Schnitt zulegte. "Der Wohlfahrtsstaat ist recht erfolgreich bei der Bekämpfung von Armut", betont Leoni. (sulu, DER STANDARD, 10.5.2014)