Unikate für den Kleiderschrank: Wer mit Nadel und Faden und vor allem mit den verzwickten Geheimnissen eines Schnittplans umzugehen weiß, der kann sie sich selbst schneidern.

Foto: Lukas Friesenbichler

Die Dame lächelte sehnsüchtig. Das schwarze Haar lag streng im Nacken. Ihre roten Handschuhe steckten frech in der Seitentasche einer blauen Kurzjacke mit doppelter Knopfreihe. Die modische Kleidung des unbekannten Models aus der Erstausgabe der Burda-Moden musste kein Traum bleiben.

100.000 Ausgaben des Mode-Magazins lagen im Jänner 1950 an deutschen Kiosken auf. In der Mitte zwei Schnittbögen für die begeisterte Selbstschneiderin.

Für Herausgeberin Aenne Burda der Anfang der perfekten Heim-Näherei. Noch heute glauben die meisten, Frau Burda sei die Erfinderin der Schnittmuster für die gemütliche Familienstube. Es war ein Mann, der als Erster den Frauen das Konzept für ihre Kleider lieferte. Mitte des 19. Jahrhunderts saß der Schneider Ebenezer Butterick zusammen mit seiner Frau Ellen im gemeinsamen Haus in Massachusetts und skizzierte die Umrisse eines Anzuges auf feines Seidenpapier. Einen Anzug für schlanke Männer, auf dem nächsten Blatt eine Kombination für den eher Korpulenten.

Anzug für jedermann

An der Ostküste Amerikas entstand 1863 der Anzug für jedermann. Wenig später bastelte das Paar die ersten Kleider, Röcke und Blusen für Frauen. Das klitzekleine Familienunternehmen fing an, die filigranen Schnittblätter zu falten, einzupacken und selbst in die entlegensten Bundesstaaten der USA zu senden. Das lief so gut, dass Butterick an die In-Adresse nach New York ziehen konnte, an den Broadway, und 1867 das Magazin Ladies Quarterly of Broadway Fashions herausbrachte. Noch erfolgreicher war The Delineator. Das Schnittmusterheft galt Ende des 19. Jahrhunderts als die Nummer eins auf dem Mark.

Butterick und Burda wären begeistert, wenn sie wüssten, wie angesagt Selbernähen wieder ist. Schnittmuster verstauben längst nicht mehr in Omas Handarbeitstruhe, und sogar die Generation der Enkelinnen ist mächtig stolz, wenn beim nächsten Fummel auf dem Etikett steht "made by myself".

Nähwettbewerb

Noch vor kurzem war es undenkbar, dass die knisternden Umrissblätter von Bluse, Rock oder Hose eine Hauptrolle im Fernsehen spielen könnten. Der große britische Nähwettbewerb "The Great British Sewing Bee" auf der Suche nach der nächsten Top-Hobbynäherin des Landes ist das jüngste Casting-Format der Fernsehbranche. Samt bewährtem Showmuster aus hoffnungsfrohen, hippen und halsstarrigen Kandidatinnen.

In diesen Tagen verfolgten Millionen Briten auf BBC2 die zweite Staffel der Serie mit wundervollen Frauen, die aus einem Packen vorgestanzter Bögen eine Bluse nähen. Die Kandidatinnen hanteln sich wie die Models durch verschiedene "challenges", also Herausforderungen. Ein einfacher Schnitt für eine Hose ist noch simpel, eine Vorlage aus den 1930er-Jahren mehr als kompliziert. Dann trennt sich nicht nur im Fernsehen die Spitzenkönnerin von der Amateurnäherin. Die Siegerin muss ein besonders kompliziertes Brautkleid schneidern. Im letzten Jahr gewann eine 81-Jährige den Contest, sehr zum Staunen der Jüngeren.

Die Firmen jubeln

Über die Schnittmustershow sprechen am nächsten Morgen Sekretärinnen, Kassiererinnen und Businessfrauen. Nicht nur die Zuschauer sind begeistert, auch die Schnittmusterfirmen jubeln. "Wir hoffen, dass in den nächsten Monaten mehr Menschen Interesse an unseren Schnittmustern haben", schreibt die Firma Simplicity New Look. Das französische Fernsehen zeichnet momentan eine Version der Schneidersendung auf, für einen amerikanischen Piloten läuft ein Casting. Obwohl in der Branche weltweit viele Designer den Schnitt bestimmen und in der britischen Nähshow ein Trucker und ein Manager ihr Können mit Schneiderkreide und Schere zeigten, die Näh-Community bleibt Frauensache.

Auch dank Internet hat sich ein Netz von Amateurnäherinnen gebildet, die mit Nähnadel und Nähmaschine Unikate nicht nur für den eigenen Kleiderschrank schneidern und dabei schöne Schnittmuster als wertvollen Besitz empfinden.

Auf zahlreichen Homepages und Diskussionsforen debattieren Anfängerinnen und Fortgeschrittene über angesagte Schnitte, aktuelle Sommerröcke und abgefahrene Stoffmuster, besprechen Klebebandtricks, schwierige Saumeinschläge und Nahtzugaben. Und zerpflücken durchaus freundlich die Modehefte, die am Kiosk aufliegen. Über Burda werde ja gerne gelästert, schreibt die Berliner Bloggerin und Autorin Constanze Derham. Aber die Schnitte sind grundsätzlich nicht verkehrt. Bei Easy Fashion könne man sich "als halbwegs talentierter Anfänger auch an etwas schwierigere Teile wagen". Während in Meine Nähmode die Fotos und die ganze Aufmachung schrecklich altbacken wären.

Nähnerds mit Nadeln und Faden fühlen sich längst nicht mehr als zurückgebliebene Hausmütterchen, sondern sind reif fürs Fernsehen. Derham freut sich auf ihrem Blog nahtzugabe.blogspot.de über das "großartige Vergnügen im passiven Nähen", das die "neue Staffel des Great British Sewing Bee" bot.

Retro-Trend hilft

Burda hielt während der mageren Jahre durch. Der Chic in den 50er-Jahren klang noch ein bisschen chauvinistisch, als das Blatt aus Offenburg Schnitte wie "Die frauliche Note, charmant betont" oder "Elegantes zur Cocktailstunde" offerierte. Shoppen war angesagt, statt schneidern. Fast trotzig warb das Burda-Magazin vor zwanzig Jahren mit dem Spruch: "Hätte Gott gewollt, dass wir von der Stange kaufen, hätte er uns nicht Hände, sondern Kreditkarten gegeben."

Der Retro-Trend gibt dem Schnittmuster neue Schnitte. Anders als früher in den Stoffabteilungen der großen Kaufhäuser kursieren die angesagten Schnitte nun im Internet. Sogar die Ideen der Top-Designer finden die Neu-Schneiderinnen dort für billige 19,50 Euro. Das Internet mit seinen Foren und Blogs gibt den Selbstnäherinnen ihre Plattform für die Fotos mit den Eigenkreationen. Statt Avantgarde auf dem Laufsteg geht es um Avantgarde aus der heimischen Schneiderstube.

Die jungen Selbstdesignerinnen lernen, was für ihre Großmütter selbstverständlich war: sich auszukennen mit den verzwickten Geheimnissen eines Schnittplans, der in der Mitte eines Modeheftes liegt. Weil meist mehr als ein Dutzend verschiedene Röcke, Kleider oder Hemden darauf sind, lassen sich die einzelnen Vorlagen nicht einfach ausschneiden.

Aus den nummerierten Linien, Strichen und Punkten eines verwirrend erscheinenden Musterbogens müssen sie die richtigen Bahnen ziehen und mithilfe eines Kopierrädchens den Schnitt auf Seidenpapier durchpausen. Das Auflegen auf den Stoff und Zuschneiden ist dann fast kinderleicht. Die nicht ganz so Begabten kaufen Einzelschnitte, bei denen die Papierbögen schon fertig ausgeschnitten sind.

Wer selbst davor kapituliert, dem hilft Kathrin Schneider (Chamue). Die Münchnerin vertreibt Nähsets nach Fastfoodprinzip. Fast alles ist schon fertig. Der Stoff ist gleichzeitig Schnittmuster. Anleitungen, Tipps, Nadel und Faden liegen daneben. Nähen allerdings müssen die Frauen immer noch allein. (Oliver Zelt, Rondo, DER STANDARD, 9.5.2014)