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In der Urbrühe der Meere entstanden die grundlegenden Prozesse des Lebens. Was der Zündfunken der Evolution war, liegt allerdings noch im Dunklen.

Foto: AP Photo/Eugene Hoshiko

Cambridge - Niemand weiß genau, wann es anfing. Vor vermutlich mehr als vier Milliarden Jahren ging der erste Regen auf Erden nieder. Von einem kleinen Schauer konnte wohl keine Rede sein. Aus der damals noch jungen Atmosphäre kondensierten gewaltige Wassermassen. Es bildeten sich die ersten Ozeane - die Wiege des Lebens auf unserem Planeten. Zunächst allerdings waren die Urmeere nichts anderes als eine wässrige Lösung verschiedenster Chemikalien. Von Organismen noch keine Spur. Doch irgendwann geriet etwas in Bewegung und begann sich zu organisieren. Der Zündfunken der Evolution, deren Ursprünge noch immer im Unbekannten liegen.

Die vorherrschenden Umweltbedingungen waren aus heutiger Sicht nicht die besten. "Es hat sehr viel CO2 in der Atmosphäre gegeben und somit einen immensen Treibhauseffekt", sagt der Biochemiker Markus Ralser von der University of Cambridge im Gespräche mit dem STANDARD. Die Kraft der Sonne war gleichwohl geringer, was eine Abkühlung begünstigte. Über die Zusammensetzung des frühzeitlichen Meerwassers haben Analysen der ältesten bekannten Sedimentgesteine Aufschluss gegeben. Denen zufolge enthielt der Cocktail neben großen Mengen Kohlenstoff ausreichend Phosphor und diverse Metalle. Ein durchaus fruchtbarer Sud.

Wie in dieser Urbrühe die ersten stoffwechselähnlichen Prozesse entstanden sein könnten, hat Ralser nun zusammen mit seinen Kollegen Markus Keller und Alexandra Turchyn aufgezeigt. Keller ist als österreichischer Stipendiat des Wissenschaftsfonds FWF in Cambridge tätig. Die Wissenschafter simulierten im Reagenzglas die chemische Zusammensetzung urzeitlicher Ozeane und gaben verschiedene organische Verbindungen wie Glukose-6-Phosphat oder Dihydroxyazetonphospat hinzu.

Simulation des Archaikums

Für Fachleute sind diese Substanzen alte Bekannte, denn sie stellen Zwischenprodukte zweier wichtiger biochemischer Reaktionsketten dar: der Glykolyse und des Pentosephosphatwegs. Beide spielen im zellulären Metabolismus von praktisch allen Lebensformen eine zentrale Rolle: Sie ermöglichen die Energiegewinnung aus Kohlenhydraten und stellen die Bausteine für Proteine und Fettsäuren zur Verfügung. Abgesehen davon geht aus den Reaktionen auch Ribose-5-Phosphat hervor, das Rückgrat des Erbgutmoleküls RNA.

Das Expertenteam testete verschiedene Gemischtypen aus zwei unterschiedlichen Zeiträumen. Sauerstofffreie Varianten mit hohem Eisengehalt sollten die Verhältnisse im Meerwasser während der Frühphase des Archaikums vor rund 3,8 Milliarden Jahren nachbilden. Damals dürften die Ozeane noch sehr reich an Eisen-II-Ionen gewesen sein.

Hunderte Millionen Jahre später, als mit den Cyanobakterien die ersten Photosynthese betreibenden Organismen auf den Plan traten, wurde von diesen Einzellern immer mehr molekularer Sauerstoff produziert. Die Folge: Eisen-II oxidierte zu Eisen-III und ging dabei unlösliche Verbindungen mit anderen Ionen ein. Die Meere wurden eisenarm. Diese Situation simulierten die Cambridge-Forscher in einem zweiten Reaktionsszenario.

Zum Vergleich ließen sie die organischen Verbindungen auch im reinen Wasser reagieren. Die Mischungen wurden bis zu fünf Stunden lang auf 70 Grad erhitzt. Solche Temperaturen dürften zumindest zeitweilig im gesamten Ozeanbereich geherrscht haben, meint Ralser. In der Nähe von vulkanischer Aktivität treten sie auch heute noch auf, vor allem in der Tiefsee.

Um die Vorgänge in ihren Mikro-Ozeannachbildungen bis in die kleinsten Details erfassen zu können, setzten die Wissenschafter hochsensible Analysetechnik ein. Mit ihrer Hilfe lassen sich im Reaktionsverlauf einzelne Substanzen und Zwischenprodukte auch in winzigen Konzentrationen nachweisen. Was das Gerät dann tatsächlich registrierte, ist allerdings eine Sensation: Im Archaikum-Gemisch liefen insgesamt 29 verschiedene Reaktionen ab. Viele davon sind im Prinzip identisch mit einzelnen Schritten der Glykolyse und des Pentosephosphatwegs, doch im Gegensatz zu ihren biologischen Gegenstücken fanden sie ohne die Unterstützung von Enzymen statt.

Offensichtlich hatten die anorganischen Inhaltsstoffe im simulierten Urozeanwasser deren katalytische Funktion übernommen. Als Reaktionsprodukte entstanden unter anderem Pyruvat, das Endprodukt des Zuckerabbaus, sowie Glukose und der RNA-Baustein Ribose-5-Phosphat, wie die Forscher kürzlich im Fachjournal "Molecular Systems Biology" berichteten. Entscheidende Stoffwechselkomponenten waren ohne Zutun von lebendigen Zellen entstanden.

Eisen als wichtigster Faktor

Ein Teil der beobachteten Reaktionen trat zwar auch im eisenarmen Milieu auf, aber unter Archaikum-Bedingungen verliefen die meisten von ihnen deutlich schneller und spezifischer, erklärt Ralser. Eisen-II-Ionen waren der wichtigste Faktor. Diese Rolle könnten sie auch vor knapp vier Milliarden Jahren gespielt haben. "Eisen hatte den Riesenvorteil, dass es in enormen Mengen vorhanden war."

Gleichzeitig hat das Metall aufgrund seines Atombaus besonders günstige katalytische Eigenschaften und wird gut von organischen Molekülen gebunden. Etwa als zentraler Bestandteil von Hämoglobin wird Eisen auch heute noch von allen lebenden Organismen genutzt - zur Sicherheit fest verpackt in Proteinstrukturen. "Es wäre für eine lebendige Zelle sehr von Nachteil, wenn sie zu viele freie Metallionen in sich herumschwimmen hätte", betont Markus Keller. Die reaktionsfreudigen Teilchen würden große Schäden anrichten, auch am Erbgut.

Die Entdeckung der Cambridger Experten wirft ein neues Licht auf die Ursprünge des Lebens. Wenn relevante Reaktionen auch ohne Hilfe von biologischen Systemen ablaufen können, dann sind die Vorläufer von Stoffwechselprozessen womöglich unabhängig von den ersten Organismen entstanden und wurden später von diesen übernommen. Der Einsatz von Enzymen diente anschließend der Optimierung.

Bisher sind viele Fachleute davon ausgegangen, dass diese Proteine die Voraussetzung für die Entwicklung von komplexen organischen Reaktionsketten gewesen sein müssen. Eine wesentliche Frage ist indes auch weiterhin ungeklärt: Woher stammte das Rohmaterial für die beobachteten Prozesse? Die Entstehung von Aminosäuren aus einfachen, anorganischen Molekülen wurde bereits experimentell nachgewiesen, aber nicht die Bildung von Substanzen wie Glukose-6-Phosphat. Und ohne Letztere kein Kohlenhydrat-Stoffwechsel.

Markus Ralser ficht das nicht an. Grundsätzlich zeigt die Biochemie, dass diese Reaktionen umkehrbar sind, erklärt der Forscher. Demnach könnte der katalytische Abbau von Zuckermolekülen und deren Zwischenprodukten auch in umgekehrter Richtung verlaufen. Nicht nur auf der Erde. Zutaten wie CO2, Wasser und Eisen sind im Universum schließlich reichlich vorhanden. "Das impliziert, dass sich andere Ökosysteme auf anderen Planeten ähnlich entwickelt haben könnten", meint Ralser. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 7.5.2014)