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Fernandez über Jugendliche: "Zuerst nimmt man ihnen die Perspektiven weg, später wirft man ihnen vor, dass sie keine haben."

Foto: REUTERS/Paolo Bona

Graz - Sara war elf, als sie das erste Mal auf "den Platz" kam. Ihr älterer Bruder hatte sie zu den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die hier ihre Zeit verbrachten, mitgenommen. Für die folgenden Jahre sollte der Jakominiplatz, ein Knotenpunkt des öffentlichen Verkehrs in der Grazer Innenstadt, so etwas wie ein Zuhause und Familienersatz für Sara werden. Denn was sie damals bisher erlebt hatte, war nicht die Geborgenheit, die sie gebraucht hätte. Sara wuchs ohne ihren leiblichen Vater auf - dafür mit wechselnden, teilweise gewalttätigen Partnern ihrer Mutter.

Als sie langsam in die Straßenszene eintauchte, suchte sie sich dort auch so etwas wie "Ersatzpapas", erzählt die Soziologin Karina Fernandez von der Uni Graz dem STANDARD. Fernandez beobachtete ein Segment der Straßenszene für ihre Dissertation Straßenjugendliche in Graz: Verlaufsprozesse von Straßenkarrieren. Die von ihr ausgewählten jungen Menschen waren zwischen 14 und 28 und gehörten nicht zu den so genannten Punks, die Fernandez Jahre zuvor im Rahmen ihrer Diplomarbeit kennenlernte.

Ideologiefrei ohne fixe Bleibe

Die Jugendlichen, die Thema der nun fertiggestellten Dissertation wurden, fallen weder durch ihr Styling auf wie "Freizeitpunks" (Fernandez), noch durch eine bestimmte Lebensanschauung, wie den Anarchismus der "Ideologiepunks", oder eine Gegenkultur. Sie definieren sich über ihren Platz und eine zumindest teilweise Obdachlosigkeit - "fluktuierende Wohnsituation" nennt das Fernandez. Die Forscherin beobachtete und begleitete rund 40 "Jako-Leute", wie sich einige auch nannten, im Zeitraum von Frühling bis Herbst 2008 - und hielt dann weiter Kontakt, um den Verlauf ihrer "Straßenkarrieren" - ein gängiger soziologischer Begriff - aufzuzeichnen.

Das Vertrauen der jungen Menschen zu finden sei leicht gewesen: "Ich bin klassisch über eine Schlüsselperson, die ich bereits von früheren Gesprächen kannte, eingestiegen." Auch als die Soziologin ihr Vorhaben erklärte, gab es wenig Scheu, man meinte nur: "Geh, wir sind doch langweilig, was sollen wir erzählen." Fernandez erfuhr, dass "wirklich alle Kontakt zu Sozialarbeitern hatten - oft der letzte mit dem, was sie selbst als normale Welt bezeichnen".

Wer "landet" auf der Straße und welche Umstände haben Einfluss darauf, ob jemand wieder aus der Szene herauskommt? Fernandez fand heraus, dass es im Wesentlichen zwei Hintergründe gibt: Jugendliche aus einem problematischen Elternhaus mit Gewalt- und Missbrauchserfahrungen, die flohen, aber auch jene, die einfach "hineinrutschen" durch Freunde.

Bei David war das mit 14 so. Er hat bis heute ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter. "Seine Jugend war zwar von viel Instabilität geprägt, aber er schildert sie nicht dramatisch." Das "Hineinrutschen", also die Einstiegsphase kann auch ein Ausflug bleiben. Entscheidend über den Verlauf der Straßenkarriere ist die zweite Phase, die Fernandez "Verfestigung" nennt: "Hier setzen Probleme ein, die der Gruppe Zusammenhalt geben: Drogen und Alkohol, den man nicht versteckt, sondern bewusst sichtbar trinkt".

Das ist gesellschaftlich verpönt. Die Grazer Verbotspolitik führte, etwa durch Ordnungswache und Alkoholverbote, dazu, dass die Szene, die Fernandez studierte, sich heute nicht mehr auf den "Jako" konzentriert, was die Arbeit der Streetworker erschwerte. Ihre Klienten zogen sich auf kleine Plätze oder in Siedlungen in armen Vierteln zurück.

In der Verfestigungsphase beginnt auch das "Fremdschlafen", man geht nicht mehr nach Hause, übernachtet bei Freunden oder in Notschlafstellen. "Um den Respekt der Szene zu erlangen, gibt es verschiedene Strategien: Etwa Teilen, aber auch Vandalismus und Schlägereien", so Fernandez. Manche absolvieren neben der Szene eine Ausbildung, doch viele brechen ab. So auch David.

Ausstieg durch ein Baby

Ausstiegsszenarien ähneln sich oft, sagt Fernandez, "alle wollen raus, die meisten schaffen es auch". Sara noch nicht: Sie versuchte den Ausstieg bewusst durch eine Schwangerschaft. Doch nach drei Kindern floh sie vor einem gewalttätigen Partner in ein Frauenhaus. Die Kinder wurden ihr abgenommen, sie kam nach Jahren zurück in die Szene.

"Ihre Träume sind alle ganz kleinbürgerlich, sie wollen ein Haus mit Garten und Familie", betont Fernandez, "viele, weil ihnen das selbst fehlte. So fühlen sie das eigene Scheitern besonders hart". Fernandez beobachtete, dass die Arbeit der Streetworker eine ist, "die man nicht auf den ersten Blick sieht, aber sie wirkt". Manchmal über Jahre. Für den Ausstieg sei sie jedenfalls sehr wichtig. Das zeigt sich auch beim Berufswunsch vieler Jako-Leute: "Sie wollen selbst Sozialarbeiter werden, ein Beruf, den sie wirklich kennen."

Gesellschaftlich müsse man "gegen Ungleichheit arbeiten", sagt Fernandez. Jene, die noch Bezugspunkte nach außen haben, schaffen den Ausstieg aus der Szene eher. Doch auch Kinder aus unproblematischen Familien leiden, wenn sie in "segregierten Schulen und Wohngegenden" aufwachsen, weiß Fernandez, die das Wort Ghetto bewusst meidet: "Wenn die Eltern arbeitslos sind, die Eltern der Freunde und die Nachbarn in der Siedlung auch, wird etwas wie Matura völlig abstrakt. Zuerst nimmt man ihnen die Perspektiven weg und später wirft man ihnen vor, dass sie keine haben". (Colette M. Schmidt, DER STANDARD, 7.5.2014)