Literatur- und Kulturwissenschaftler Clemens Ruthner über Wien: "Die ganzen Sesselkleber haben schon die paar Krümel, die es noch gibt, unter sich aufgeteilt."

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"Ich bin aufgrund einer frechen Bemerkung in Ungarn gelandet", sagt Clemens Ruthner. Und: "Ich hätte mir nie träumen lassen, wo mich das hinbringt." Heute ist Ruthner Professor für Germanistik und (Zentral-)Europastudien am Trinity College in Dublin. Aber der Reihe nach. Nach seiner Diplomprüfung in Wien im Jahr 1991 fragte ihn sein Betreuer, der über Philologenkreise hinaus bekannte Wendelin Schmidt-Dengler, ob er denn weitermachen wolle mit seiner wissenschaftlichen Karriere. Ruthners Antwort: "Wer bezahlt mir das?"

Was folgte, war ein von Österreich unterstütztes Auslandslektorat in Budapest von 1991 bis 1993, eine für Ruthner "sehr spannende Zeit des Umbruchs dort". Danach wechselte er, ebenfalls als Lektor, nach Antwerpen. "Ich war der einzige Kandidat, der wusste, dass in Antwerpen Niederländisch gesprochen wird - das hat geholfen", erzählt er lachend. Aber auch dieses Lektorat war befristet. "Es gibt in Österreich nicht wie für die deutschen Kollegen eine, nennen wir es: akademische Resozialisierung."

"Wilder Lektor"

Die meisten österreichischen Kolleginnen und Kollegen seien nach ihrer Rückkehr ins Heimatland mangels Alternativen ins Lehramt gegangen. "Ich dachte mir: Wenn es keinen Job gibt, muss ich ihn mir selber schaffen, und bin 'wilder' Lektor geworden." Er habe, nur noch vom Gastland Belgien unterstützt, in Antwerpen das österreichische Studien- und Kulturzentrum Octant aufgebaut.

Im Jahr 2001 folgte die Promotion. "Ich habe den typischen Fehler gemacht und gedacht, dass nach der Promotion eine Stimme vom Himmel erschallt und der Ruf erfolgt", sagt Ruthner. Das sei ein Irrtum gewesen. In Belgien sei der Nepotismus extrem. Der Ruf erfolgte schließlich nach Kanada, für Ruthner damals "das gelobte Land", auf eine Gastprofessur. Es gibt auch einen familiären Bezug: Ruthners Großmutter verbrachte in Quebec ihre letzten 20 Lebensjahre.

Er verließ den alten Kontinent also frohgemut und hatte in Edmonton "mit 39 Jahren den ersten gut bezahlten Job" seines Lebens. Heute sagt er: "Universitäten brauchen ein Hinterland. Du kannst alles Geld der Welt in die Pampa pumpen, aber das macht trotzdem keinen Sinn." Die nördlichste "Großstadt" Nordamerikas mit ihren 600.000 Einwohnern habe "ungefähr das intellektuelle Niveau von Wiener Neustadt".

"Für alles beworben, was fliegt"

Trotzdem möchte er die Zeit nicht missen, weil er jetzt die Vor- und Nachteile verschiedener akademischer Systeme kenne. "In Kanada hat der Dekan oder Head of Department sehr viel Macht", erklärt er, das könne Entscheidungsprozesse beschleunigen - aber auch von Nachteil sein, wie in seinem Fall: "Warte auf die Stelle", sei der Rat des Vorgesetzten gewesen; mit dessen Nachfolgerin war jede berufliche Perspektive wieder dahin.

Er habe sich daraufhin "für alles beworben, was fliegt" - und "die Stelle bekommen, die ich für am unwahrscheinlichsten hielt: am Trinity College". Er habe sich gegen zwei "Hauskandidaten" keinerlei Chancen ausgerechnet. "Ich dachte, ich bin der Pausenclown", sagt Ruthner ganz ernst. Dann, schon beim Interview, habe sich "ein Gefühl von Fairness" eingestellt. Am nächsten Tag kam der Anruf: "Da ist mir eingefallen, dass in angelsächsischen Ländern nur die angerufen werden, die den Job bekommen." Das war 2008.

Heute sagt er: "Ich würde nicht so gern nach Nordamerika zurückgehen. Was mir gefallen hat, waren das Think Big und die Entspanntheit." Trotzdem sei er froh gewesen, wegzukommen von den Getreidesilos, hin nach Dublin. Die Freude sei ein wenig getrübt durch die "europäische Uni-Bürokratie". "Wenn ich dann eines dieser Formulare ausfüllen muss, zum dritten Mal, weiß ich wieder, wo ich bin."

Hackln ins Kreuz

Jedes System habe für ihn "sein Kleingedrucktes". Am Unibetrieb in Kanada habe er Teamgeist kennengelernt, nicht wie in Wien, wo man einander "die Hackln ins Kreuz schmeißt". Am Trinity College schätze er, dass "Nationalität hier keine Rolle spielt". Auch die Universität Wien habe sich internationalisiert, allerdings mit starkem deutschem Überhang.

"Ich kenne zwei, drei exzellente deutsche Kollegen", sagt Ruthner, "viele mittelmäßige und einen von Ressentiments erfüllten österreichischen Mittelbau". Mit den vielen "Zurückgebliebenen" geht er hart ins Gericht: "Die ganzen Sesselkleber haben schon die paar Krümel, die es noch gibt, unter sich aufgeteilt." An Rückkehr denkt er nicht oft. Schließlich hat er am Trinity College eine pragmatisierte Lebensstelle. Trotzdem plagt ihn ab und zu ein "ambivalentes Heimweh". (Tanja Paar, derStandard.at, 8.5.2014)