Haymon Maria Buttinger nahm zuletzt eine CD mit "rauhen Romanzen" auf. Jetzt spielt er eine Vielzahl von Kraus-Rollen.

Foto: Regine Hendrich

Wien - Als Woyzeck muss Haymon Maria Buttinger Erbsen essen und seinen Hauptmann frisieren. Nichts, worum man den armen Kerl beneiden würde. Dann passiert etwas Wunderbares. Aus dem Schnürboden des Wiener Volkstheaters hängen ein paar nackte Glühbirnen herunter. Woyzeck, die geschundene Kreatur, tritt ans Mikrofon. Er singt, als hätte er nie etwas anderes getan, ein herzzerreißendes Lied mit dem Titel Misery is the River of the World. Die Würde dieses elendsten Menschen der Welt ist mit einem Mal wiederhergestellt.

Der Soldat muss mit Reißnägeln gegurgelt haben. Kein Wunder, denn der Originalinterpret des Songs heißt Tom Waits. Buttinger kannte man bis dahin höchstens als Charge, als verlässlichen Kleindarsteller. In Michael Schottenbergs Woyzeck-Inszenierung erklomm Buttinger seinen bisherigen Karrieregipfel. Nicht schlecht für einen 60-Jährigen, der im Schaustellergewerbe vor vielen Jahren als Requisiteur Fuß zu fassen begann - und der heute sagt: "Der Tom Waits kann gar nicht anders singen, während ich auch normal sprechen kann." Stimmt. "Ich habe jedoch sehr breite Stimmbänder mit langen Flimmerhärchen."

Lob des Fleißes

Die meiste Zeit über hat Buttinger gar nicht viel gesagt. Als Requisiteur war er einst bei den Filmregisseuren Axel Corti und Fritz Lehner tätig. Damals, erzählt Buttinger, wurde an einem normalen Drehtag Material für zweieinhalb Filmminuten hergestellt. Das sei Vergangenheit. Heute würden am Set "fünf, sechs, teilweise acht Minuten" heruntergekurbelt. Für Proben bleibe da keine Zeit. "Bei Corti wurde geprobt, und es gab anschließend trotzdem 15 Takes." Eine Arbeitswoche maß damals stolze 100 Stunden.

Sich selbst bezeichnet Buttinger, der seine eigenen Lieder schreibt (Haymon's Rauhe (sic!) Romanzen), als "großen Fan der Stille". Gemeint ist die "Stille"-Bemerkung in den Stücken von Ödön von Horváth. Als Matthias Hartmann vor vielen Jahren Kasimir und Karoline an der Burg inszenierte, da hätten die Schauspieler, darunter auch er, auf der Leseprobe alle "Stille"-Vorschriften eingehalten. Buttinger: "Ein Wahnsinn." Als Hartmann später die Intendanz in Bochum übernahm, wollte er Buttinger in sein Ensemble übernehmen. Das klappte nicht ganz.

Dieser Tage probt Buttinger im Wiener Volkstheater eine Vielzahl von Rollen in Karl Kraus' Die letzten Tage der Menschheit. Regisseur Thomas Schulte-Michels macht aus dem Riesenstoff einen Abend von 100 Minuten. Buttinger: "Der Regisseur hat mich wohl deshalb genommen, weil ich 'authentisch' bin. Zwischendurch hat er mich schon einmal gefragt: 'Verstellen können Sie sich nicht!?'" Käme Buttinger niemals in den Sinn: "Als Schauspieler schöpfe ich aus dem, was ich erlebt habe. Ich bin kein Robert-de-Niro-Typ, der sich langwierig in einen Charakter einfühlt."

Eingefühlt hat sich der Absolvent des Kollegiums Kalksburg in die Besonderheiten der Rodauner "Platte" (Wienerisch für: Clique). Vom Herrn Papa, dem Kalksburger Zeichenlehrer, hat Buttinger das grafische Talent geerbt. Er selbst fand sich "zwischen lauter sehr reichen, 'schwarz' gefärbten Wirtschaftsbosssöhnen wieder." Heute bezeichnet er sich als Althippie. Bei aller Genügsamkeit eignet Buttinger eine wichtige Eigenschaft. Er ist neugierig.

Als er in Steven Spielbergs Schindlers Liste mitspielte, nutzte er die Drehpausen als Charge. Während die anderen sich auf dem Set in Krakau am Catering gütlich taten, schnappte Buttinger sich eine Styroporplatte und stellte sich hinter Spielberg auf. Prompt brachte es Buttinger auf eine Menge Drehminuten. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 30.4.2014)