Szene aus Santiago Sierras für das Donaufestival produziertem Film "Lucia & the Prisoners". 

Foto: Santiago Sierra

Krems - Das Gefängnis als Disziplinierungsmaschine, das bessere, geläuterte und der Gesellschaft zuträgliche Subjekte wieder ausspuckt? Der Glauben an Michel Foucaults Repressionsthese aus Überwachen und Strafen ist ungebrochen. Aber die "kathartische Waschstraße" funktioniert nicht, so Tomas Zierhofer-Kin, Leiter des Donaufestivals. Denn Santiago Sierra, einer jener Künstler, die er einlud, um von "ephemeren anarchischen Weltentwürfen zu träumen", widmet sich in seiner Installation Lucia & the Prisoners dem Sinn des Strafvollzugs.

Leopold Kessler hatte 2009 Foucault, den Vordenker des modernen Überwachungsstaats, als rauchenden Pappkameraden oberhalb des Gefängnishofes aufgestellt, um die Überwachten ihrerseits zu Beobachtenden zu machen. Nun beschäftigt sich auch Sierra mit der im Grunde kuriosen Nachbarschaft von Kunsthalle und Justizanstalt in Krems-Stein.

"Ich hasse Gefängnisse. Nicht nur dieses, sondern alle", übermittelt Sierra dem Standard im E-Mail-Interview (Übersetzung: Bert Eder). Jemanden wegzusperren sei, wie einen Revolver ins Gefängnis zu sperren - der ändere sich dadurch auch nicht. Den Strafvollzug beschreibt Sierra als Primitivismus, als barbarischen Akt. "Statt Lösungen zu suchen, sucht man Schuldige. Die Sträflinge tragen die Schuld für die ganze Gesellschaft und geben ein lebendiges Beispiel, wie dieses soziale Chaos, das Ordnung genannt wird, am Leben gehalten wird." Das Gefängnis Tür an Tür mit der Kunsthalle könne er nicht ignorieren.

Systemkonform waren Sierras Projekte nie. Als ihm Spanien 2010 den Staatspreis verleihen wollte, lehnte er ab: Er wolle sich nicht instrumentalisieren lassen. Es sind minimalistische Arbeiten, radikal, kritisch, antikapitalistisch. 1998 blockierte er den Fluss der Waren, indem er die Autobahn in Mexiko-Stadt mit einem quergestellten Lkw blockierte - ein eher symbolischer Akt. Später wurde er extremer, führte das Prinzip von Ausbeutung und Käuflichkeit direkt am Menschen vor: Junkies gab er Geld für einen Schuss, damit er eine Linie quer über ihre Rücken tätowieren durfte. Er bezahlte Arbeitslose dafür, Gräben auszuheben, zu onanieren, eine Holzwand in die Höhe zu stemmen. Hauptsache die Tätigkeit war sinnlos, führt zu nichts Produktivem, zu keiner Ware. "Alle Arbeit ist sinnlos. Nichts als kapitalistische Ausbeutung."

Provokation und Medien

Auch das Kunstsystem selbst unterläuft Sierra: Er schüttete die Kestnergesellschaft in Hannover mit Schlamm voll, verrammelte seine Londoner Galerie am Tag der geplanten Wiedereröffnung, gestattete 2003 bei der Biennale Venedig nur Menschen mit spanischem Pass den Zutritt zum spanischen - jedoch leeren - Pavillon. Manche seiner stets kontroversiell diskutierten Projekte arteten in Skandale aus, etwa als er 2006 in Deutschland in eine ehemalige Synagoge Autoabgase leitete und man ihm "Beleidigung der Opfer" vorwarf. Aber Sierra geht es nicht um Empathie. Er lotet Grenzen des Mach- und Zumutbaren aus, um eng an diesen zu operieren - und sie bisweilen auch zu übertreten.

"Die provokative Persönlichkeit ist ein Erzeugnis der Presse", so Sierra. Für die Medien sei alles, "was nicht den Tugenden der Herrschaft applaudiert, eine Provokation", attackiert er die Medien, denen er daher nur noch schriftliche Interviews gewährt. Wenn man ein provokatives Erlebnis suche, solle man in die Kirche gehen und gut zuhören, rät er.

Die Grenze, die Sierra in Krems überschreitet, ist jene, Häftlinge "geistig dem Gefängnis entfliehen zu lassen" - und zwar in Form eines "legalen Rausches". Der an Neurowissenschaften und Mind-Control interessierte Künstler stieß im Zuge seiner Recherchen auf die Lucia N°03, eine von Tiroler Psychologen entwickelte Lampe, die ein in Geschwindigkeit und Intensität flexibles Flackerlicht produziert. Ähnlich wie bei Nahtoderfahrungen, in denen der Körper eigenes Dimethyltryptamin (DMT) ausschüttet (ein Wirkstoff der auch beim Ayahuasca-Ritual in Südamerika zum Einsatz kommt), sollen so extrem positive Erlebensweisen, etwa das Gefühl von Körperlosigkeit, simuliert werden. "Ein wunderbares Machwerk, das die Toxizität aus der psychedelischen Erfahrung nimmt und diese vollkommen gesund macht", freut sich Sierra über die Erfindung.

"Diese Lampe wirkt kathartisch", so Zierhofer-Kin. "Man wird weniger obrigkeitshörig, dafür sehr anarchistisch, sehr frei, sehr selbstbewusst", beschreibt er die Wirkung. "Man geht danach wie auf Wolken." Eine anarchisch wirkende Lampe in einem Gefängnis? Tatsächlich eine irre Sache. Kein "Skandalwerk", aber eine Arbeit, die das Denken provoziert. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 26./27.4.2014)