Die Wahrheit ist manchmal so schwer zu ertragen, dass man ihr auszuweichen sucht. Das gilt für den Einzelnen und für große Gemeinschaften. Mensch will nicht anerkennen, wie perfid, geplant und präzise die Ausrottung von ganzen Gruppen ablaufen kann, wie koordiniert. Als würde man ein Feld bestellen: Auch da muss auf das richtige Werkzeug, den richtigen Zeitpunkt geachtet werden. Mensch bestellt dieses Todesfeld seit Jahrtausenden. Immer wieder aufs Neue.

Es beginnt jedes Mal gleich, mit der verbalen Bodenaufbereitung, bevor die entscheidende Grenze zum Übergriff gequert werden kann. Diese Entmenschlichung ist nötig, um die Massen, die nun Handlanger und Täter werden sollen, aus etwaigen Unsicherheiten bezüglich ihrer Mitschuld und moralischen Verantwortung herauszulocken.

Und offenbar braucht es auch eine große Menge anderer Menschen, die die Vorgänge beobachten und sie dann ignorieren, sie verharmlosen. Das war während des Holocausts so, nicht anders war es in Ruanda. Monate zuvor waren Warnungen gekommen, die Radikaleren unter den Hutus würden Übergriffe auf die Minderheit der Tutsis vorbereiten. Die Welt sah weg.

Damit wurden nicht nur die beispiellos brutalen Folterungen und der Genozid an den Tutsis möglich, sondern auch Mord an jenen Hutus, die sich nicht beteiligten oder aktiv dagegen vorgingen. Gezieltes Wegsehen verantwortlicher Personen bei führenden Industrienationen und bei den UN, die lange, nachdem das Ausmaß der Gewalt bekannt war, noch immer von "Unruhen" sprachen, weil der Begriff Genozid ein anderes politisches Vorgehen erzwungen hätte. Die Grenze zur Gewalt ist also in mehrfacher Bedeutung abhängig vom Wort: Nicht nur wird der Verfolgte zum Schädling. Auch die Schritte der Vernichtung müssen kartografisch genau bezeichnet werden, um sich involviert fühlen zu können.

"In verhängnisvolle Umstände geraten", so bezeichnete Boutros Boutros-Ghali, damals UN-Generalsekretär, die Zustände in Ruanda. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und die Fédération internationale des ligues des droits de l'homme sprachen bereits ausdrücklich von Völkermord.

NGOs waren immer schon schneller darin, das Ausmaß der Gewalt und des Schreckens zu benennen. Das gilt für Ruanda ebenso wie für Syrien. Monatelanges Gerangel um 500 oder 1000 Flüchtlinge mehr sind angesichts der Opferzahlen beschämend. Und da Worte so bezeichnend sind für jeden bewaffneten Konflikt und dessen Anfänge, findet im Theater Hamakom am 27. 4. von 12 bis 14 Uhr eine Gedenkveranstaltung statt - mit Überlebenden und Augenzeugen des Völkermordes in Ruanda. Der Eintritt ist frei. (Julya Rabinowich, Album, DER STANDARD, 26./27.4.2014)