Lavinia Jones Wright und Alex Steyermark haben drei spannende Jahre hinter sich. Sie reisten quer durch die USA, ließen Musiker alte Folksongs spielen und nahmen die Sessions mit einem Schallplatten-Recorder auf. Das allein mag etwas verschroben klingen. Doch es ist nur ein Aspekt der Idee ihres Transmedia-Projekts, das die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters als Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit nutzt. Im September 2011 starteten die beiden New Yorker – sie Musikjournalistin, er Regisseur – ihre Webserie "The 78 Project", die besagte Aufnahmesessions filmisch dokumentierte.

Inspiriert wurden Jones Wright und Steyermark von den frühen, außerhalb eines Tonstudios aufgenommenen "Field Recordings" des Musikethnologen und Feldforschers Alan Lomax (1915-2002), der in den 1930er- und 1940er-Jahren in den USA Tonaufnahmen traditioneller und heute teils längst nicht mehr existierender Folk-Musik sammelte.

Zeitnah: Recording- und Listening-Session

Mit ihrem Presto Model "K", einem Recorder für Schallplatten mit 78 Umdrehungen pro Minute aus den 1930er-Jahren, den auch Lomax nutzte, begannen Jones Wright und Steyermark alte amerikanische Folksongs aufzunehmen, gespielt von Musikern und Musikerinnen in und rund um New York City. Direkt nach der analogen Aufnahme konnten diese ihren gerade eingespielten Song sofort auf der brandneuen Platte anhören. Die Recording- und Listening-Sessions dokumentierten die Filmemacher digital auf Video, die Filmclips erschienen in regelmäßigen Abständen auf ihrer Website.

Lavinia Jones Wright und Alex Steyermark mit ihrem Presto Model "K".

Schließlich wurden es immer mehr Musiker an immer mehr Orten, die sich auf die analog-digitalen Sessions einließen. Das Ergebnis: zum einen ein Soundtrack namens "The 78 Project: Volume 1" (als LP und digital) mit 13 ausgewählten Songs. Zum anderen ein 96-minütiger Dokumentarfilm, "The 78 Project Movie", der nicht nur Musiker in den unkonventionellen Aufnahme- und Hörsituationen zeigt, sondern auch Einblicke gibt in Alan Lomax' geleistete Arbeit für das Archiv der amerikanischen Musikgeschichte und in die Herstellung der 78-rpm-Schallplatten in Kalifornien.

derStandard.at: Wie entstand die Idee zu Ihrem Projekt?

Steyermark: Als Lavinia und ich uns vor ein paar Jahren kennengelernt haben, erkannten wir schnell, dass wir uns beide sehr für die frühen "Field Recordings" interessierten. Außerdem fasziniert uns der Sound der 78-rpm-Presto-Recorder. Die Begeisterung für diese beiden Dinge ließ dann unser gemeinsames Projekt entstehen. Besonders angetan sind wir von Alan Lomax' Werk, der als Folklorist und Field Recordist Grundlegendes und Einmaliges geleistet hat.

derStandard.at: Was besonders fasziniert Sie an der Arbeit von Alan Lomax?

Steyermark: Sehr inspirierend für uns ist die Intensität, mit der er sich den Leuten, deren Songs er aufnahm, verpflichtete. Man fühlt die Verbindung zu ihnen in seinen Aufnahmen, und zugleich umgekehrt auch die Beziehung dieser Menschen zu ihm. Man spürt die Bedeutung des Moments der Aufnahme auf beiden Seiten.

Jones Wright: Lomax verwendete für viele seiner Aufnahmen den gleichen Presto-Recorder wie wir. Es ist der gesamte Prozess der Aufnahme mit so einem Gerät, den wir mit unserem Projekt erkunden möchten. Jede Darbietung dreht sich um einen anderen Künstler, der an einem anderen Ort einen alten Song spielt. Jedes Stück ist verschieden und unvorhersehbar. Und das heißt auch, dass es für uns niemals eine Wiederholung gibt.

Dawn Landes: "The Brown Girl"

derStandard.at: Besitzen Sie mehrere Presto-Recorder für Ihre Arbeit?

Steyermark: Als wir im Frühling 2010 begonnen haben, die Idee für das Projekt zu entwickeln, habe ich zwei Prestos gekauft. Wir hatten Glück, dass die beiden ersten Geräte funktionierten, denn solche sind nicht immer leicht zu finden. Seitdem haben wir noch zwei weitere gekauft.

Jones Wright: Alex verbringt ziemlich viel Zeit damit, unsere Prestos zu warten. Er ist mittlerweile schon ein richtiger Experte, ein Presto-Mechaniker! Er hat ungefähr neun Monate lang ausgetestet, welche Möglichkeiten es gab, mit der richtigen Kombination aus Mikrofon und Aufnahmematerial das beste Ergebnis für unser Vorhaben zu erzielen.

Steyermark: Uns fasziniert aber nicht nur das akustische Ergebnis von Retro-Geräten oder der Retro-Sound an sich. Uns geht es um die Energie der Performances während dieser Aufnahmen. Da wir den Künstlern nur einen Take geben, gibt es eine enorme Konzentration, die auch in diese Aufnahme einfließt. Das Ergebnis sind sehr aufrichtige, klare Darbietungen.

derStandard.at: Ganz ehrlich, hatten die Musiker immer nur einen Take zur Verfügung?

Jones Wright: Ja, alle hatte nur einen Take! Das liegt in der Natur des Projekts, die Künstler bekommen einen Take, und das, was in diesen drei Minuten passiert, bestimmt, was auf der Aufnahme zu hören sein wird. In einem Take aufzunehmen kann eine aufregende Erfahrung sein. 

Steyermark: Unsere Künstler haben aber immer gewusst: Wenn sie sich der Herausforderung mit voller Aufmerksamkeit stellen, werden sie mit einer perfekten Aufnahme belohnt.

The Reverend John DeLore & Kara Suzanne: "Omie Wise"

derStandard.at: Sie verweben die Vergangenheit und die Gegenwart auf mehreren Ebenen: auf musikalischer, technologischer, aber auch menschlicher ...

Steyermark: Ja, The 78 Project bringt 100 Jahre Technologie zusammen: Wir machen die Filmaufnahmen mit digitalen Kameras, schneiden diese auch digital und vertreiben die Videos selbst im Internet. So können wir ein unbegrenzt großes Publikum erreichen – so etwas ist erst seit dem digitalen Zeitalter möglich. Und wir lieben es, wie diese neue Technologie mit der alten interagiert. Zum Beispiel wenn Leute den Presto mit ihrem iPhone fotografieren oder die Schallplattenaufnahmen online streamen.

Jones Wright: In jedem von uns steckt sehr viel unseres gemeinsamen kulturellen Erbes, und wir alle kennen weit mehr traditionelle Lieder, als wir oft glauben. Oft gibt es eine magische Verbindung zu dieser Musik, die wir nicht erwartet haben. Wenn sich unsere Künstler einen der alten lizenzfreien Songs aussuchen, den sie singen wollen, bitten wir sie, einen zu nehmen, der eine besondere Bedeutung für sie hat. Meistens hat das funktioniert. Manche haben Verbindungen zu ihrer Familie entdeckt.

Die meiste Magie aber versprüht der Moment, in dem die Musiker die Platte, die sie gerade aufgenommen haben, zum ersten Mal hören. Ihre Stimmen klingen so, als ob sie direkt aus der Vergangenheit kämen. Es ist ein Moment, in dem sich die Künstler selbst als Teil der Geschichte sehen.

derStandard.at: Was können Schallplatten, was digitale Musik nicht bieten kann?

Jones Wright: Ich finde, es ist ein schönes Ritual, Musik auf einer Platte zu hören, man wird zu einem aktiven Zuhörer. Man zieht sie aus der Hülle mit schönem Artwork, legt sie auf den Plattenteller und setzt die Nadel vorsichtig in die Rille. Schallplatten sind nur ein weiterer Ausdruck unserer Sehnsucht, körperlich in Kontakt mit Musik zu treten. Es ist beruhigend und macht Spaß, Platten zu hören. Und ganz ehrlich, sie klingen einfach cool. 

Steyermark: Digitale Musik ist unendlich kopierbar, und jede digitale Kopie klingt im Wesentlichen gleich. Während Platten anfangs auch gleich klingen mögen, entwickelt jede davon bald ihre eigene Patina. Alle diese kleinen Kratzer und Knackser werden Teil deiner persönlichen Geschichte mit der Platte, und sie leben weiter in deiner akustischen Erinnerung. So kann eine Schallplatte zu etwas ganz Persönlichem werden in einer Welt, in der schon so vieles gleich und einförmig ist.

Valerie June: "Happy or Lonesome"

derStandard.at: Ist ein Ende des Projekts geplant, oder werden Sie weitermachen?

Steyermark: Wir hoffen, dass wir mit The 78 Project so lange weitermachen können wie möglich. Wir haben es ja so organisiert, dass es uns immer wieder neue Möglichkeiten gibt, es weiterzudrehen. Jede Aufnahme bedeutet ein neues Abenteuer, einen neuen Künstler, einen neuen Ort. Die Möglichkeiten für neue interessante Zusammenarbeiten sind also unbegrenzt.

derStandard.at: Wann wird der Dokumentarfilm in Europa zu sehen sein?

Steyermark: Wir hoffen, so bald wie möglich. Unterstützt wurden wir in Europa ja bereits: Mit unserer Webserie wurden wir im vergangenen Mai in den Cross Media Corner des Filmfestivals von Cannes eingeladen, und wir wurden auch für den Pixel Market 2012 in London ausgewählt.

Jones Wright: Durch unseren Soundtrack sind wir schon mit vielen interessanten Leuten und Fans in Europa in Kontakt gekommen. Es ist sehr spannend, nur darüber nachzudenken, wann wir unseren Film hier zeigen können. (Jasmin Al-Kattib, derStandard.at, 30.4.2014)