Hier gab es – gleich neben dem gelben Tor – ein Loch in der Wand, zu dem den ganzen Tag und die halbe Nacht Menschen kamen. Sie stellten sich davor, sprachen ein paar Worte hinein, irgendetwas wurde durchgereicht, und die Leute gingen wieder.

Foto: Michael Glawogger

Der renommierte österreichische Dokumentarist Michael Glawogger ("Megacities", "Workingman's Death" und "Whores' Glory") ist für sein nächstes Filmprojekt ohne vorgefertigtes Konzept zu einer rund einjährigen Reise aufgebrochen. derStandard.at bringt alternierend mit Süddeutsche.de Tagebücher in Form von kleineren Geschichten, die von diesem filmischen Experiment erzählen. Die Beiträge sind im Stil der Geschichten des Buches "69 Hotelzimmer" geschrieben, das 2015 in "Die Andere Bibliothek" erscheinen wird.

foto: liz pompe

Mitten in Harper, schräg gegenüber vom Schneider und auf der anderen Straßenseite der Tubman-Universität, stand mitten auf einem verlassenen Grundstück, zwischen Palmen und Mangobäumen, ein Handymast. Einer, wie es sie auf der ganzen Welt gab und gibt. Ein simples Gerüst aus Stahl, mit einer kleinen Parabolantenne weit oben. Dieser Mast war rot und weiß gestrichen und von einer kleinen Mauer umgeben. Diese Mauer schützte nicht nur den Mast, sondern auch den Generator, der dort Tag und Nacht gleichmäßig vor sich hinratterte. Die Mauer war oben mit einer langgezogenen Stacheldrahtrolle gesichert, und das gelbe Eingangstor war fast immer verschlossen. Nur einmal konnte er von seinem Hotelzimmerfenster aus einen Angestellten heraushuschen sehen, der das Tor schnell hinter sich zusperrte. Insgesamt eine Anlage, wie es in Afrika abertausende geben musste – sogar mitten im Busch ragten oft Handymasten zwischen den Palmen und Gummibäumen empor.

Hier aber gab es – gleich neben dem gelben Tor – ein Loch in der Mauer, zu dem den ganzen Tag und die halbe Nacht Menschen kamen. Sie stellten sich davor, sprachen ein paar Worte hinein, irgendetwas wurde durchgereicht, und die Leute gingen wieder. Das Loch war ungefähr auf Schulterhöhe eines Fünfzehnjährigen in die Wand gebrochen, und so mussten sich Erwachsene hinunterbeugen und Kinder auf die Zehenspitzen stellen. Um das Loch herum war der hellgelbe Verputz schon ganz abgegriffen und schmutzig.

Er hätte einfach fragen können, wofür dieses Loch gut sei, aber es bereitete ihm ein inneres Kribbeln, das Rätsel noch ein wenig vor sich hinschweben zu lassen. Immer wieder ging er zum Fenster und beobachtete das Geschehen, und ständig kamen Menschen jedes Alters, verharrten kurz vor dem Loch und gingen wieder. Er erinnerte sich an etwas Ähnliches in einem abgeschlossenen Stadtteil von Reynosa in Mexiko. Dort lebten Gesetzlose, die diesen Stadtteil nicht verlassen konnten, ohne eingesperrt zu werden, und für die es dort eine Art Straffreiheit gab. Abend für Abend gegen sechs Uhr bekamen sie durch ein Loch in einer Mauer Essen gereicht – meist gegrilltes Ziegenfleisch und Tortillas. Sie stellten sich an, bis sie an der Reihe waren, und tauschten dann wortlos Geld gegen die Speisen. Hier aber war nicht auszumachen, was durch das Loch gesteckt wurde – und meistens wurden anscheinend auch nur ein paar Worte gewechselt.

Er nahm sich vor, selbst zu dem Loch zu gehen. Irgendetwas musste ja geschehen, wenn er sich dorthinstellte und auf das wartete, was er dann bekäme. Blöd nur, wenn er nichts bekäme, sondern etwas bringen müsste und nicht wüsste, was das sein sollte. Vielleich war dieser Austausch von was auch immer nicht für Fremde gedacht, und da wenige hundert Meter weiter oben ein alter, halbverfallener Prunkbau der Freimaurer stand, handelte es sich vielleicht auch hier um eine geheime oder halböffentliche Organisation, und man musste einen Code kennen, wenn man zu dem Loch trat. Allerdings konnte er bei den Menschen, die das taten, kein Muster erkennen, außer vielleicht, dass es ein wenig mehr Jugendliche oder Kinder als Erwachsene waren.

Am dritten Tag setzte er sich in ein kleines Lokal, von dem aus er die Anlage im Augenwinkel hatte, und alle, die zu dem Loch gingen, an ihm vorbei mussten. Er achtete auf besondere Merkmale oder Markierungen, wie sie hier üblich waren. Erst vor wenigen Tagen hatte ihm ein Mechaniker, der um die Fesseln und die Handgelenke tiefe Narben hatte, die er zu verstecken suchte, geklagt, dass er einmal zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Dort hatten ihn einige maskierte Priester mit glühenden Eisen gebrandmarkt, und er musste aus seinem Dorf fliehen, wo er sich nun nie wieder blicken lassen könne. Vielleicht sei er jetzt sogar mit dem Teufel im Bunde.

Es stimmt ja, dass Mobilfunkbetreiber mittlerweile wie Geheimbünde um die Seele eines jeden potenziellen Kunden keilen. Ob MTN, Orange, Lonestar, Cellcom, Airtel, Mauritel, Telenor, Maroc Telecom, A1, Vodafone, Mtel oder Wind – sie alle wollen, dass man Teil ihrer wunderbaren Familie wird, in der man immer füreinander da und erreichbar ist und in der man sich um günstigste Tarife immer und überall die schönsten Dinge sagen kann. Wie in jedem Land der Welt üblich, sind dazu schöne Menschen auf schönen Plakaten und in schönen Filmen auf schönen Fernsehschirmen zu sehen, die einander schöne, intelligente, lustige und gefühlvolle Dinge zu sagen haben.

In Liberia hatte Cellcom den Kampf um seine Seele gewonnen, da Lonestar es zwei Tage lang nicht geschafft hatte, sein Handy zu aktivieren. Nach etlichen fruchtlosen Anrufen, die nur in einer endlosen Warteschleife endeten, gab er auf und wandte sich dem anderen Anbieter zu. Und dieser Handymast hier, das konnte er der Besitzerin des Lokals entlocken, gehörte Cellcom. Er wollte schon nach dem Zweck des Loches fragen. Aber nein, jetzt, wo klar war, dass er selbst Mitglied dieses Bundes war, würde er, wie die anderen auch, zu dem Loch gehen und dort sein Handy vorweisen. Und dann würde er ja sehen. Er wollte es aber nicht überstürzen, sondern trank noch eine große Flasche Stout und aß Fisch mit scharfer Kidneybohnen-Soße. Dann wurde er, wie alle Bewohner dieser Stadt, müde, weil die Hitze des Nachmittags feucht in die Glieder und Gedanken drang und jedes Wollen und jeden Willen zur Aktivität in einem lahmlegte. Er schleppte sich zurück in sein Zimmer, starrte noch schwitzend auf die rosaroten Wände und den sich träge drehenden Ventilator, als der Strom ausfiel und er einschlief.

Als er erwachte und aus dem Fenster blickte, sah er gleich mehrere Leute, die sich an dem Loch neben dem gelben Tor anstellten, und mit einem Mal war ihm alles klar. Ohne dieses Loch würde der Kapitalismus hier nicht funktionieren. Ohne dieses Loch wäre es so viel schwieriger, den glücklichen Menschen ihre glücklichen Gespräche und Kurznachrichten zu ermöglichen, und deshalb musste man ihnen etwas schenken, mit dem sie ihr Geld weiterhin ausgeben konnten. Können sie das nicht, dann wird es bitter, auch in diesem Teil der Welt.

Sein Handy war nahe dran, stromlos den Geist aufzugeben, und er ging durch die heraufdämmernde Nacht zu dem Loch. Er reichte wortlos sein altes Nokia hinein, und eine anonyme Hand nahm es in Empfang. Er solle in einer Stunde wiederkommen, wurde ihm gesagt. Genau das würde er tun, und er würde seinen ganzen Credit weiterverplaudern können mit seiner schönen Familie, seinen schönen Freunden und allen anderen schönen Menschen, die er kannte. By God in Power. (Michael Glawogger, derStandard.at, 22.4.2014)