Die Wirtschaftskrise Russlands ist offensichtlich. Noch vor zwei Jahren, im Wahlkampf, versprach Wladimir Putin ein Wachstum von fünf bis sechs Prozent. Bereits 2013 wies die Wirtschaft nur eine Steigerung von 1,3 Prozent auf, im ersten und zweiten Quartal 2014 erwartet man sogar einen Rückgang der Wirtschaftsleistung; der Kapitalabfluss im ersten Quartal war so viel wie im ganzen Jahr 2013. Das entspricht drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Seit Anfang des Jahres haben an der Moskauer Börse die wichtigsten Aktien 19 Prozent verloren. Der bedeutende russische Ökonom Sergej Gurijew - bis 2013 war er Rektor der Moskauer Hochschule für Wirtschaft und lehrt jetzt in Paris - sieht die Furcht vor den Auswirkungen auf die Popularität Putins als einen der Hauptgründe für "das irrational erscheinende Handeln der russischen Führung".

Wie manche andere Beobachter, so beispielsweise die herausragende Schriftstellerin Svetlana Alexijewitsch, zitiert auch Gurijew, der sein Land aus Furcht vor Strafverfolgung im Vorjahr verließ, den geflügelten Spruch eines russischen Ministers aus dem Jahr 1904, der einen sogenannten "kleinen siegreichen Krieg" vorschlug, um eine Revolution abzuwenden. Diese von Putin und seinem Apparat mit technischer Perfektion angewandte Methode in der Krim und offensichtlich auch in der Ostukraine reichte bisher aus, um von der Verantwortung für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und für das Engerschnallen des Gürtels erfolgreich abzulenken.

Fünfundzwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetblocks und dem Ende des Kalten Krieges droht eine neue Eiszeit im Verhältnis zu Russland. Mit der Annexion der Krim und der Stiftung der Unruhe in der Ukraine gilt das Russland Putins wieder als ein Land, von dem Gefahr ausgeht. Am Rande des von Botschafter Emil Brix organisierten internationalen Symposiums in London zum 25-Jahr-Jubiläum der Zentraleuropäischen Initiative und des Falls des Eisernen Vorhangs ebenso wie bei der von Professor Jan-Werner Müller an der Princeton-Universität geleiteten wissenschaftlichen Konferenz über die Bilanz der zehn Jahre seit dem Eintritt der postkommunistischen Reformstaaten in die EU konnte man sozusagen hautnah die Furcht der osteuropäischen Wissenschafter und Politiker vor den Folgen des von nationalbolschewistischen Fantasien inspirierten Machtrauschs des russischen Staatschefs spüren.

Russlands Außenpolitik ist unberechenbar geworden. Dass Putin vor aller Welt zeigt, er könne hinter einem kunstvollen Lügenvorhang schalten und walten, wie er will, während ein gespaltener Westen zuschaut und zaudert, ist die Hauptbotschaft der Medien. Putin verspielt die friedenspolitischen Erfolge von Jahrzehnten. Aber die Tragweite der Rückkehr zu einer brutalen Machtpolitik wird noch immer nicht überall begriffen. In London und Washington wird die historische Dimension des Geschehens in der Ukraine klarer gesehen als in Berlin, geschweige denn in Wien.

Wir erleben das Ende der Wende von 1989, den Abschied von den Illusionen über die Epoche des Friedens. Heute spaltet Putin (noch) den Westen, aber wenn er nicht haltmacht, könnte er sich vielleicht als Einiger des wirtschaftlich turmhoch überlegenen, aber machtpolitisch kraftlosen Westens entpuppen. (DER STANDARD, 22.4.2014)