Die einen, darunter der britische "Economist", fordern eine entschlossene und harte Reaktion auf Wladimir Putins Vorgehen gegen die Ukraine, weil man ihn nur so vor einer weiteren Aggression abhalten kann. Die anderen warnen vor unüberlegten Schritten, die den Konflikt weiter eskalieren lassen und gar einen Krieg heraufbeschwören könnten.

Und dazwischen stehen die Regierungen der EU und der USA, die einfach nicht wissen, wie sie sich gegenüber dem immer selbstbewusster agierenden russischen Präsidenten und seinen schwachen ukrainischen Nachbarn verhalten sollen.

Die Ratlosigkeit des Westens hat viele Gründe: fehlende Weitsicht, wirtschaftliche Interessen, eine öffentliche Meinung, die weder Kriege noch andere Konflikte will. Vor allem aber steht dahinter ein Dilemma, das in der internationalen Politik oft auftritt: Niemand weiß, mit was für einem Gegner man es zu tun hat.

Aggressiv oder verunsichert

Ist Putin ein zu allem entschlossener Aggressor, der den russischen Machtbereich mit allen Mitteln ausdehnen will und alle diplomatischen Bemühungen als Zeichen der Schwäche auslegt? Oder ist er ein verunsicherter Politiker, der sich vom Westen bedrängt fühlt und nach der Niederlage im innerukrainischen Machtkampf dringend ein Erfolgserlebnis gebraucht hat, das er sich mit der Krim geholt hat?

Reagiert er in der Ostukraine nur auf den wachsenden Unmut der dortigen russischsprachigen Bevölkerung über den neuen Kurs in Kiew? Oder waren die Proteste mit ihren militärischen Manifestationen von Anfang an von Moskau inszeniert, um so Gelegenheiten für ein weiteres Eingreifen zu schaffen?

Und wenn Putin nach der Krim sich nun auch die Ostukraine krallt, die historisch immer mehr nach Moskau als nach Kiew tendiert hat, wird er dann aufhören? Oder das gleiche Erfolgsmuster in Transnistrien und schließlich den baltischen Staaten anwenden? Und damit auch gleich zeigen, dass er sich weder vor der EU noch vor der Nato fürchtet?

Erster oder Zweiter Weltkrieg

Ist die passende historische Parallele zu 2014 das Jahr 1914, als Europa in einen Weltkrieg stolperte, weil auf jede Eskalation des Gegners mit noch mehr Eskalation reagiert wurde, oder 1938, als der Westen sich nicht rechtzeitig gegen Adolf Hitlers Aggressionspolitik stellte und damit erst recht einen Weltkrieg unausweichlich machte?

Die dem zugrunde liegende Frage hatte ich vor einem Jahrzehnt in meinem Buch „Das Hitler-Syndrom“ aufgeworfen und zur Grundfrage der Außenpolitik des Westens erklärt. Der Kalte Krieg, der Umgang mit Saddam Hussein, Nordkorea oder dem Iran – stets standen vor allem US-Präsidenten vor der Entscheidung, ob sie Stärke beweisen müssen, um Schlimmeres zu verhindern, oder auf Verhandlungen und Kompromisse setzen sollen, um sich unnötige Kriege zu ersparen.

Aber wohl noch nie war diese Entscheidung so schwierig wie heute. Putin ist sicherlich kein zweiter Hitler. Selbst wenn er davon träumt, alle Russen, die durch den Zerfall der Sowjetunion zu Minderheiten geworden sind, wieder in einem Reich zu vereinen und dieses wieder zu einer Supermacht zu machen, so ist es unwahrscheinlich, dass er dafür wirklich alles riskiert.

Weder Krieg noch Wirtschaftskrise

Russische Dominanz in der Ostukraine ist möglicherweise ein akzeptabler Preis dafür, dass die Welt jetzt weder in einen heißen Krieg noch in eine tiefe Wirtschaftskrise schlittert. Beides wird jedoch möglich, wenn die Ratschläge der Hardliner befolgt werden. 

Allerdings gibt es immer mehr Anzeichen dafür, dass Putin sein Ziel weiterverfolgen wird, wenn er keinen Widerstand spürt. Sein TV-Auftritt am Donnerstag war gezeichnet von Verachtung für den Westen und einem neuen Irredentismus, der Teile der Ukraine und Zentralasiens für sein Großrussland beansprucht.

Das Abkommen, das sein Außenminister Sergej Lawrow am gleichen Abend in Genf unterzeichnet hat, bestand aus gegenläufigen Versprechungen, die prompt nicht eingehalten werden. Es scheint so zu sein, dass Putin den Westen mit seinen Friedensbeteuerungen nur täuschen will und gar nicht daran denkt, sich irgendwo zurückzuziehen.

Neue russische Aggression

Und das bedeutet, dass die USA und die EU tatsächlich vor einer Situation stehen, die viel mehr mit 1938 als mit 1914 zu tun hat – dass der Versuch, den Frieden zu bewahren und den Konflikt zu deeskalieren, nur neue russische Aggressionen hervorbringen und die Lage im Osten Europas nur weiter verschlimmern wird.

Selbst wenn Putin in dieses Muster des Aggressors passt, hat er es nicht so eilig wie einst Hitler. Sein Vorbild ist wohl eher Stalin, der stets eine geduldige, opportunistische Expansionspolitik verfolgte, die aber nur um wenig besser war.

Es liegt nun an Putin selbst, der Welt zu beweisen, dass er nicht diese Art von politischem Abenteurer ist, sondern ein nüchterner Machtpolitiker, mit dem man pragmatische Lösungen anstreben kann.

Wenn nicht, dann muss man die vielen neuen Bücher über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs beiseitelegen und stattdessen die Ereignisse von 1933 bis 1939 studieren – und überlegen, welche Lehren man aus dem Scheitern der damaligen Appeasement-Politik ziehen kann. (Eric Frey, derStandard.at, 19.4.2014)