Gefangen in einem mit durchsichtigem Stoff bespannten Kubus, manipulieren anonyme schwarze Massen erst den Körper eines Mannes und danach den einer Frau: das Ballet National de Marseille in "Elégie".

Foto: Arturo Fuentes

Innsbruck - Seit der französische Choreograf Olivier Dubois (42) in seinen Stücken nicht mehr selbst auftritt, zeigt sein Werk ganz neue Qualitäten. Dies war bereits vergangenen Sommer bei dem Gruppenstück Tragédie im Linzer Musiktheater zu bemerken. Noch deutlicher wird das nun mit der beunruhigenden Produktion Elégie, die das renommierte Osterfestival Tirol momentan in der Innsbrucker Dogana gezeigt hat.

Dabei war es gerade der eigene Körpereinsatz, der Dubois in Frankreich bekannt gemacht hat und ihm 2008 in Wien den Prix Jardin d'Europe einbrachte: als Energiebündel mit für Tänzer eher unorthodox stärkerer Figur, der seine bis hin zur Behauptung Révolution (2009) immer mehr politisch aromatisierten Arbeiten gern mit kräftig Hormongaben unterspritzt hat. Die Ergebnisse kamen, wenn man es mit Friedrich Liechtenstein raunen will, "supergeil" an: vom Frühwerk Pour tout l'or du monde über das Solo Faune(s) bis hin zu dem aber wirklich auf geil angelegten Zungenkuss-Duett Prêt à baiser.

Wer da den Eindruck gewann, es bei Dubois mit einem ausgekochten Selbstdarsteller zu tun zu haben, der den eigenen Exhibitionismus eher schlecht als recht mit großen Themen zu kaschieren versuchte, lag vielleicht nicht ganz falsch. Das war aber immer noch weitab von einer gut versteckt gehaltenen Begabung dieses Aufsteigers: Olivier Dubois ist, wie er in Tragédie eindrucksvoll unter Beweis stellte, ein hochtalentierter Choreograf, der sich traute, das Tragische als rationale, emotional kaum greifbare Struktur mit 18 Tänzern auf eine große Bühne zu bringen.

Dass sich in Elégie, seiner konsequenten Nachfolgearbeit, fast genauso viel Personal auf engstem Raum drängt, wird erst klar, sobald sich die Tänzerinnen und Tänzer des Ballet National de Marseille zum Applaus aufstellen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren sie die Verkörperungen des makabren Gegenteils von einem Schöpfungsvorgang. Gefangen in einem mit durchsichtigem Stoff bespannten Kubus, manipulieren anonyme schwarze Massen erst den Körper eines Mannes und danach den einer Frau. Nebel ziehen. Unentwegt grollen Donner. Und nie wird es wirklich hell.

Glück existiert nicht

Will man Dubois glauben, dass er sich von Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien hat inspirieren lassen, dann erinnern die beiden an die "jungen Toten" aus der zehnten Elegie. Und die Abläufe der Choreografie an den Schluss: "Und wir, die an steigendes Glück / denken, empfänden die Rührung, / die uns beinah bestürzt, wenn ein Glückliches fällt." In Elégie, dem Stück, existiert ein Begriff wie "Glück" nicht. Der Mann und die Frau treten radikal voneinander getrennt auf. Nichts verbindet sie, denn nur nacheinander durchlaufen sie ihre - beinahe identisch verlaufenden - Existenzprozesse. Etwas Finsteres hat sie ausgespuckt. Es lässt sie ein wenig umherirren und testet, was sie alles aushalten, bis es sie zum Schein hochhebt und schließlich verschlingt.

Das klingt nicht nur brutal. Es ist tatsächlich dieser Rilke, der in seiner ersten Elegie wenig zuversichtlich schreibt: "Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang ..." Olivier Dubois ist es tatsächlich gelungen, seine Elégie als überzeugende Schönheit zu zaubern. Aber diese ist und bleibt bis zum Ende kalt, denn sie ist der Schauplatz einer gescheiterten und zurückgenommenen Schöpfung. Sie steht für ein System, in dem der Mensch ein Spielball einer von seinem Empfinden und Wollen unbeeindruckten Evolution bleibt.

Realismus oder Pessimismus

Ob dies nun Realismus oder Pessimismus ist, das kann sich das Publikum aussuchen. Aber so zynisch wie viele Dystopien in Killermentalitäten fördernden Computerspielen und auf Angstlust spekulierenden Film-Apokalypsen ist Elégie keinesfalls.

Eine wichtige choreografische Arbeit ist in dem Innsbrucker Musik- und Tanzfestival noch zu sehen: der rasante Debütklassiker What the body does not remember des Belgiers Wim Vandekeybus am Ostersonntag. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 19.4.2014)