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Wie schafft man den Spagat zwischen der großen und der kleinen Welt? Wiederaufbau in Port-au-Prince, Haiti.

Foto: Loius Quail / In Pictures / Corbis

Nächsten Freitag findet in Wien das Symposium der Architekten ohne Grenzen statt. Niclas Dünnebacke, Projektleiter für Haiti, über Entwicklungshilfe und Grenzenlosigkeit.

STANDARD: Sie kommen gerade aus Haiti. In welchem Zustand befindet sich das Land heute?

Dünnebacke: Ja, ich war dort zehn Tage lang. Und ich habe festgestellt, dass diese aufgeregte und manchmal auch panische Situation, die ich dort direkt nach dem Erdbeben erlebt habe, sehr stark abgeklungen ist. Man sieht jedenfalls keine in sich zusammengefallenen Ruinen mehr. Die Aufbauarbeit, die in Haiti heute geleistet wird, ist eine feinere, ist eine differenziertere als noch vor einigen Jahren.

STANDARD: Das Erdbeben vom Jänner 2010 liegt mehr als vier Jahre zurück. Kann man bereits von Normalisierung sprechen?

Dünnebacke: Ich kenne Haiti vor dem Erdbeben zwar nicht, aber ich könnte mir vorstellen, dass es davor ähnlich ausgesehen hat wie jetzt. Aber natürlich hat das nichts damit zu tun, was wir in Europa unter normal verstehen. Haiti war von grausamen Diktaturen geprägt und wurde viele Jahrzehnte über skrupellos ausgebeutet und immer weiter heruntergewirtschaftet. Die Menschen haben gelernt, mit Improvisation und Unsicherheit zu leben. Und sie verstehen unter einem kaputten oder sanierungsbedürftigen Wohngebäude etwas anderes als wir. Aber ja, was den gelebten Alltag und die Gespräche mit den Leuten betrifft, so meine ich, so etwas wie Normalität beobachten zu können.

STANDARD: Sie sind bei Architectes Sans Frontières (ASF) Projektleiter für Haiti. Was genau ist Ihre Aufgabe?

Dünnebacke: Genau das! Wir kümmern uns nicht nur um die physische Rekonstruktion und um die bauliche und technische Infrastruktur, sondern arbeiten mit den Leuten vor Ort. Wenn Sie so wollen, steuern wir die Mittel bei, dirigieren das Ganze und unterstützen die Menschen in ihrem eigenen Tun, damit sie schneller und effizienter zum Ergebnis kommen.

STANDARD: An welchen konkreten Projekten arbeiten Sie?

Dünnebacke: Wir, und da spreche ich von ASF France, sind derzeit in den Bau einiger kleinerer und größerer Schulen involviert, und zwar in der Hauptstadt Port-au-Prince sowie in Jacmel. Außerdem befassen wir uns mit dem Wiederaufbau historischer Bauten, denn wir haben festgestellt, dass diese öffentlichen Bauten, obwohl sie nicht lebensnotwendig sind, den Menschen am Herzen liegen und daher sehr identitätsstiftend sind.

STANDARD: Und was machen Ihre Schwesterorganisationen aus anderen Ländern?

Dünnebacke: ASF Schweden und Spanien arbeiten gerade an neuen, effizienteren Konstruktionen im Bereich Hochbau und Wassergewinnung. Da werden etwa Fundamente aus Autoreifen und Erde gemacht, da wird mit neuartigen Dachaufbauten experimentiert, die den Zyklonen besser standhalten können. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Arbeit in Haiti reicht von Laborversuchen bis zur klassischen Rekonstruktion.

STANDARD: Einerseits ist ASF eine international agierende Organisation, andererseits sind Sie darauf angewiesen, mit lokalen Ressourcen zu arbeiten. Wie schafft man diesen Spagat zwischen der großen und der kleinen Welt?

Dünnebacke: Wichtige Frage! Eine unserer ethischen Maximen ist die Miteinbindung der lokalen Bevölkerung. Wir suchen gezielt die Zusammenarbeit. Denn wenn wir das nicht machen, hat man am Ende womöglich ein hübsches Haus, aber keine emotionale Bindung und Identifikation. Die Folge: Das Haus bleibt ungenutzt und wird unter Umständen zerstört, um mit den Rohstoffen neue Projekte zu bauen. Hat es alles schon gegeben. Ist das etwa Hilfe? Der sogenannte Spagat, wie Sie sagen, ist nicht immer einfach. Aber er ist eine Conditio sine qua non.

STANDARD: Wie und wo finden Sie Ihre Helfer?

Dünnebacke: Direkt vor Ort. Im direkten persönlichen Kontakt. Da hilft kein E-Mail und kein Telefon.

STANDARD: Wie finanzieren Sie die Projekte?

Dünnebacke: Die Baukosten werden in der Regel von Organisationen und Agenturen beigesteuert, beispielsweise von der französischen Entwicklungsbank Agence Française de Développement. Die Mitarbeiter vor Ort werden bezahlt. Doch wir Architekten arbeiten ehrenamtlich.

STANDARD: Was ist Ihr persönlicher Motor?

Dünnebacke: Oh, da würden wir heute nicht mehr fertig werden!

STANDARD: Helfersyndrom?

Dünnebacke: Natürlich, was sonst! Und eine gewisse Portion Neugier.

STANDARD: Beim Wiederaufbau des Lower Ninth Ward in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina 2005 konnten die involvierten Architekten auf die Unterstützung von Brad Pitt zurückgreifen. Gibt es solche Stars auch bei ASF?

Dünnebacke: Leider nein, doch wir würden gern auf solche Ressourcen zurückgreifen können. Prinzipiell ist zu sagen, dass die Projekte von ASF wesentlich unspektakulärer sind als etwa die Häuser in New Orleans. Ob das nun richtig ist oder nicht, weiß ich nicht.

STANDARD: Ein großer Einschnitt in der Entwicklungshilfe war 2005 in Südafrika.

Dünnebacke: Oh ja, der Kindergarten in Orange County, Johannesburg!

STANDARD: Das war das erste Entwicklungshilfeprojekt, das es sogar in internationale Lifestyle-Magazine schaffte.

Dünnebacke: Viele Architekten haben es geschafft, sich über solche Projekte einen Namen zu machen. Ich finde das auch völlig okay. Es sind ja gute und schöne Projekte. Aber ich frage mich, ob diese paar ästhetischen Projekte wirklich so eine flächendeckende Bedeutung haben, wie so oft suggeriert wird. Das, was wir in den Lifestyle-Medien sehen, ist nur ein Bruchteil dessen, was weltweit passiert. Das sind nur vereinzelte Anekdoten. Die unspektakuläre und für Medien unattraktive Kanalarbeit, wenn ich sie mal so nennen darf, ist prozentual wesentlich größer.

STANDARD: Doch als Zugpferd ...

Dünnebacke: ... taugen sie allemal! Keine Frage.

STANDARD: Ist der Druck, was Qualität und Ästhetik betrifft, seit Südafrika gestiegen?

Dünnebacke: Der Ansporn ist deutlich gestiegen. Und das ist auch gut so, denn seien wir uns ehrlich: Viele Entwicklungshilfeprojekte, die weltweit entstehen, sind abgrundtief scheußlich und eine Zumutung für die Menschen. Das muss nicht sein. Entwicklungshilfe darf auch schön sein.

STANDARD: Wo liegt die Grenze zwischen Ästhetik und einer gewissen Verlifestylisierung von Menschen in Not?

Dünnebacke: Das ist genau das, was ich befürchte. Man muss aufpassen, dass man nicht der Mode hinterherjagt und dabei womöglich den eigentlichen Fokus aus den Augen verliert.

STANDARD: Sie nennen sich zwar Architekten ohne Grenzen. Doch irgendwann einmal ...

Dünnebacke: ... stößt man unweigerlich an seine Grenzen. Selbst wenn man sich noch so sehr auf den Kopf stellt. Die meisten Grenzen sind wirtschaftlicher, historischer, soziologischer und klimatischer Natur. Eine Grenze, die wir jedoch einfordern, lautet Bedürfnis, Interesse und Respekt voreinander. Ansonsten läuft man Gefahr, dass Entwicklungshilfe zu reinem Zynismus verkommt. Beispiele dafür gibt es genug.

STANDARD: Und wo liegen Ihre persönlichen Grenzen?

Dünnebacke: Ich würde gerne immer noch mehr machen. Aber das geht nicht. Ich muss akzeptieren, dass meine Energien und Ressourcen beschränkt sind. Schade. Aber so ist das.(Wojciech Czaja. DER STANDARD, 19.4.2014)