Einem Bonmot Harold Blooms zufolge ist es William Shakespeare, der uns auf dem Gewissen hat. Wir alle sind, sagt Bloom, seinem Kopf entsprungen. Pallas Athene ist aus der Wade von Göttervater Zeus geschlüpft. Die Welt, wie wir sie kennen, verdankt ihre Existenz dem Schöpfungswerk Gottes. Unsere Substanz aber, das, was die Menschen im Guten wie im Bösen ausmacht, soll in dem englischen Dramatiker ihren Urheber haben. Sagt Bloom. Und wer wären wir, den Ratschluss dieses ehrwürdigen Gelehrten aus den USA in Zweifel zu ziehen?
Dieser Tage feiert die ganze Welt William Shakespeares 450. Geburtstag. Feuerwerke werden abgebrannt, bevorzugt auf Zeitungsseiten. Großbritannien, grüne Heimat des mysteriösen Titanen, erfreut sich seines berühmtesten Sohnes mit selbstbewusster Zurückhaltung.
Wer Stratford-upon-Avon, Shakespeares Geburtsort, ansteuert, landet aus geografischen Erwägungen auf dem Flughafen in Birmingham. Die Grafschaft Warwickshire erstreckt sich südlich davon und ist ein köstlicher Garten. Birkenreiser zischen hinter dem Pannenstreifen vorüber. Kaum hat man es sich versehen, rumpelt der Bus in eine Ortschaft voller Fachwerkhäuser. Die weiße Tünche sticht ob ihrer Frische in die Augen. Die Hotels in Stratford sind schwer atmende Gebilde, mit Stiegen und und Gängen aus runzeligem Holz.
Hier, in unmittelbarer Nähe des Stadtzentrums, jagte Klein-William als Dreikäsehoch in durchlöcherten Hosen den Schmetterlingen nach. Die Unbeschwertheit kann nicht allzu lange gewährt haben. Will, Sohn eines ehrgeizigen Weißgerbers und Handschuhmachers, besuchte die Lateinschule. Da hieß es von sechs Uhr früh bis fünf Uhr am Nachmittag (Tea-Time!) die Schulbank zu drücken und den Ovid zu pauken.
Ohne lateinisches Pensum kein Illyrien (Was ihr wollt), kein Wald bei Athen (Mittsommernachtstraum). Von Julius Cäsar ganz zu schweigen. Obwohl in diesem Stück bekanntlich die Uhr schlägt. Aber vielleicht fehlte William, als sie die römische Republik durchnahmen, auch nur krankheitsbedingt im Unterricht.
Und viele Fragen offen ...
Die Anmut Stratfords leidet kein bisschen unter der knappen Bevorratung mit "wirklichem" Shakespeare. Dabei ist echter Shakespeare Mangelware. Gegeben hat es ihn, so viel steht fest. Der Herr Papa war ein angesehener Mann, der um einen Adelstitel einkam. Das Geburtshaus in der Henley Street macht einen adretten Eindruck. Man muss sich beim Eintreten tief bücken, aber das ist in niederösterreichischen Bauernhäusern auch nicht anders. Offenbar zog es William wegen der stark stechenden Gerbereidüfte bald ins Freie hinaus. Als gesichert gilt die Verheiratung mit einer um acht Jahre älteren Frau, die von ihm ein Kind unter dem Herzen trug.
Man meint den puritanischen Geist zu verspüren, der das Haus im späten 16. Jahrhundert durchwirkte. Edle Steine am Boden suggerieren Wohlhabenheit. Den Garten dominieren kupierte Bäume, es blühen Krokusse, in einer verschwiegenen Ecke steht ausgerechnet eine Büste des bengalischen Dichterkollegen Rabindranath Tagore. Aber nach Stratford mit seinen ebenerdigen Häusern sind schon viele gepilgert: Charles Dickens, Thomas Hardy, Theodor Roosevelt. Im Souvenirladen kann man Shakespeare als Knautschpuppe oder als formschönen Tintenbehälter erstehen.
Die Stiftung am Geburtsort lässt sich dieser Tage nicht lumpen. Famous beyond Words - Shakespeare all Around Us nennt sich eine im März eröffnete Schau. Zentrales Ausstellungsstück ist ein Exemplar der legendären ersten "Folio-Ausgabe", die posthum zustande kam. Ihr Erscheinen verdankt sie den beiden Schauspielerkollegen John Heminges und Henry Condell. Ohne dieses Kompendium von 1623 wären 18 Stücke des Titanen unrettbar verlorengegangen.
Shakespeare war da schon sieben Jahre tot. Und es verblüfft stets aufs Neue, dass der größte Dramatiker, den die Welt je gesehen hat, London wieder verließ und sich 1612 in sein adrettes Heimatstädtchen zurückzog. Dort wickelte er mit großer Inbrunst Grundstücksgeschäfte ab. Vielleicht hat er auch dem einen oder anderen Rebhuhn nachgestellt. So genau weiß man das nicht.
Unausrottbar hält sich das Gerücht, nicht der Schauspieler William Shakespeare (1564-1616), sondern ein Adeliger namens Edward de Vere, 17. Earl of Oxford, habe jene wunderbaren Werke verfasst, deretwegen Harold Bloom uns alle für seine Geschöpfe hält. Seither ist die gelehrte Welt in zwei Parteien gespalten. Sollte die Fraktion der "Oxfordianer" in England Prestige besitzen, so erstreckt dieses sich nicht nach Stratford. Im Park nahe dem Fluss Avon - er trat heuer mit Macht über die Ufer - steht das mächtige Gebäude der Royal Shakespeare Company. Auf Initiative eines kunstsinnigen Bierbrauers 1879 errichtet, wurde es nach einem Brand 1932 vergrößert. Heute umfasst es zwei Säle mit 1000 und 460 Plätzen. Hier wird Shakespeare ganz ohne lästige Regie-Theaterexzesse zelebriert.
Vom Turm aus überblickt man das Tal des Avon. Schwäne zerteilen gemächlich das Wasser, das junge Grün blitzt im Wald von Arden an den Ästen. Angeblich gibt es Schauspieler, die Vertragsverpflichtungen in Stratford als Verbannung ins Exil empfinden. Man kann diese Personen nur lebhaft bedauern. Auch kulinarisch lässt sich das Gurkensandwich jederzeit transzendieren. Ein Abendessen im Gastropub "The Opposition" in der Sheep Street ist nicht nur wegen des lämmernen Straßennamens programmatisch anzuraten. Und wer die schmucke Dreifaltigkeitskirche mit der Shakespeare-Grabstätte nicht zu schätzen weiß, dem sei der Besuch der Toilettenanlagen im nahen Park angeraten. Die verträumt blubbernde Bedürfnisanstalt wurde unlängst als das herrlichste "Loo" im ganzen Königreich ausgezeichnet.
Wer wissen möchte, warum es Shakespeare in London zum angesehenen Theatermann brachte, kommt um einen Besuch des Globe Theatre nicht herum. Die messinggelbe Themse schlägt ans Londoner Südufer, dort, wo sich der Nachbau der Renaissance-Bühne erhebt. Das "Third Globe" ist eine getreuliche Nachbildung jener Bühne, auf der die "Chamberlain's Men" vor das unruhige Volk traten. Zu ebener Erde standen die einfachen Leute. Sie hatten einen Penny Eintritt - den Gegenwert eines Laibes Brot - bezahlt und ließen sich von der Sonne küssen. Shakespeare, dessen Karriere als Schreiber und Schauspieler in den 1590er-Jahren erst so richtig in Fahrt kam, musste sich bedeutender Konkurrenz erwehren.
Im nahen Umkreis der Southbank frönte man der Bärenhatz oder kitzelte besonders handzahme Vertreter der Familie Petz. Umso verwunderlicher der Budenzauber, den der Mann aus Stratford auf den Brettern abbrennen ließ. Niederste Bedürfnisse befriedigte man mit Hochliteratur. In den seligen Regierungsjahren der "jungfräulichen Königin" Elisabeth I. glich das Theater einer Wundermaschine. Vertreter aller Stände wurden unterhalten und belehrt. Bezechte Gäste traten mit den Schauspielern unerbeten in Dialog. Gelegentlich wurden echte Kanonen abgefeuert.
Kampf um Reputation
Das sollte dem "ersten" Globe-Theater zum Verhängnis werden. Nach unsachgemäßer Bedienung eines Geschützes stand das Haus 1613 in Flammen. Schließungen gab es häufiger. Das eine Mal wütete die Pest; ein anderes Mal schoben die Puritaner den Thespiskarren in den Abgrund. Die lokale Theatergeschichte nach Shakespeare ist ein zäher Kampf um Einfluss und Reputation.
In Sam Wannamaker's Playhouse, dem kleineren Saal im Globe, sorgen Kerzen für warmes Licht. Zu ebener Erde und auf zwei Galerien kann man sich an Der Ritter vom flammenden Stössel von Francis Beaumont erfreuen. Dieser ein wenig wirre Schwank gewinnt an Kontur, wenn man sein bahnbrechendes Konzept überdenkt.
Kaufmannseltern sorgen dafür, dass ihr dümmlicher Sohn auf dem Theater mitspielen darf (Rahmenhandlung). Hierauf setzen sie sich in die erste Reihe fußfrei und kommentieren das Geschehen. Das Spektakel versprüht ungebremste Heiterkeit. Nur unerfahrene Besucher haben da bereits das dreigängige "Pre-Theatre Menu" des Restaurants Swan im Bauch. Diese famose Gaststätte ist direkt an das Shakespeare's Globe angeschlossen. Morpheus drängt sich prompt zwischen Esser und Aufführung. Zum Beschluss des Tages fehlt nur noch ein "Shakespeare"-Cocktail in der Bar des "Jumeirah Charlton Tower". Man fährt nach Knightsbridge, an den Cadogan Place. Die schicksten Londoner stillen ihren Bildungsdurst in der Bar. Shakespeare schmeckt hier übrigens nach Kakao. (Ronald Pohl, DER STANDARD, Album, 19.4.2014)