Einer alten Dame fällt beim Nachmittagskaffee die Kuchengabel aus der Hand. Ihr linker Mundwinkel hängt herunter, sie kann plötzlich nicht mehr sprechen. Die Enkel denken sofort an einen möglichen Schlaganfall und wollen die Rettung rufen. Der Sohn möchte seine Mutter jedoch lieber gleich mit dem Auto ins Spital bringen, zumal das neue, große Krankenhaus gleich in der Nähe ist. Er rast mit seiner Mutter ins Spital, doch leider: Es gibt dort viele Abteilungen, nur keine Neurologie ...

Dieses Szenario könnte für die Bevölkerung im Norden Wiens bald zum Alltag gehören. Denn: Getüftelt haben viele Theoretiker am "Masterplan" des "Spitalskonzepts 2030". Ob klinisch tätige Ärzte dabei waren, ist eine andere Frage. Das Konzept soll sämtliche Abteilungen der derzeit bestehenden Wiener Spitäler durcheinanderwürfeln.

Kernpunkte

Nach dem "Spitalskonzept 2030" sollen die sechs KAV-Spitäler Wiens in Zukunft nach Schwerpunkten aufgeteilt werden: Ein Onkologisches Zentrum, ein Herz- und Gefäßzentrum, ein Mutter-Kind-Zentrum, ein Traumazentrum, ein Lungenschwerpunkt, ein Viszeralschwerpunkt sowie ein Kopfschwerpunkt sind geplant. Experten zweifeln an der Sinnhaftigkeit: Schließlich sind Krankheiten oft miteinander verknüpft – der menschliche Körper lässt sich gerade im Akutfall nicht so leicht in "Zentren" trennen.

Mehrere zu dem Thema befragte, klinisch tätige Ärzte bestätigen die Undurchdachtheit des neuen Systems: "Was wir brauchen, um in einem Notfall für schnelle Hilfe sorgen zu können, sind Krankenhäuser mit möglichst allen Fächern unter einem Dach." Stattdessen sollen schon bald „Tomographen und Operationssääle quer durch ganz Wien gekarrt werden", wie es Dr. Franz Mayrhofer, Allgemeinmediziner und stellvertretender Chefredakteur der Zeitung "Doktor in Wien", treffend ausdrückt. Und: "Eingespielte Teams werden zerrissen, Berufsbiografien gebrochen, Spitzenabteilungen aufgelöst."

Viele Meinungen

Als Ärztin, die nicht beim KAV tätig ist, habe ich viele Kollegen nach ihrer Meinung zu der geplanten Spitalszusammenlegung gefragt. Von dem Argument, dass man bei einem auf der Straße gestürzten Patienten eben oft nicht gleich sagen könne, ob er ins "Herz-" oder ins "Kopfzentrum" gehöre,  bis zur Aussage, dass manche Nischenabteilungen durchaus als Ganzes verlegt werden könnten, bis hin zu der lapidaren Ansicht, dass dann "wenigstens weniger Patienten unnötig ins Spital fahren", habe ich viele Meinungen gehört.

Gerade letztere finde ich so nicht haltbar. Solange es von Seiten der Politik keine Anreize für Ärzte gibt, am Wochenende Notfallpraxen aufrechtzuerhalten, bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als eben die Ambulanzen aufzusuchen – und da die Bevölkerung wächst, wird der Andrang größer, und nicht kleiner werden. Von Patienten zu erwarten, selbst zu entscheiden, ob ihr Fall akut sei oder nicht, ist unvertretbar. Auch ich war erst kürzlich unerwarteterweise zur Patientin geworden, die auf der Neurochirurgischen Abteilung des Krankenhauses Rudolfstiftung vor schweren Folgeschäden einer Rückenmarksquetschung gerettet wurde – dank dem raschen Eingreifen eines guten Neurochirurgen noch rechtzeitig. Zuvor war ich nach einer Odyssee von Arzt zu Arzt zuletzt in einem kleineren – zwar auf Orthopädie spezialisierten, jedoch offensichtlich nicht mit Akutfällen erfahrenen Krankenhaus – aufgrund des Feiertags ohne klärendes MRT nach Hause geschickt worden.

Umso mehr erstaunt es mich, dass auch international renommierte Spitzenabteilungen wie eben die Neurochirurgie oder die Plastische Chirurgie in der erst kürzlich teuer renovierten Rudolfstiftung für 2030 nicht mehr vorgesehen sind. Ebenso unverständlich ist für mich, dass das medial so hochgejubelte "Krankenhaus Nord" nicht einmal über eine Neurologische Basis-Abteilung verfügen soll. "Falsch eingelieferte" Patienten müssten dann eben ins Donauspital, das jetzt schon mit akutem Personalmangel ringt, transferiert werden.

Gefahren

Für Krankheitsbilder wie Hirnblutungen oder Schlaganfälle – die mit steigender Lebenserwartung zunehmen - ein potenziell tödliches Szenario. Die Diskussion um den Gesundheitsplan in Wien scheint für mich mittlerweile politische Anliegen vor Patientenanliegen zu stellen. Offenbar sind die Belegschaftsvertretungen der KAV-Spitäler inzwischen auf  die Solidarität der Bevölkerung angewiesen, damit renommierte Abteilungen in ihrer Schwerpunktsetzung der Wiener Bevölkerung erhalten bleiben.

Meine Zweifel am "Gesundheitsplan 2030" haben mich veranlasst, einen Brief an die Stadträtin Wehsely zu schreiben, in dem ich die Sinnhaftigkeit ihrer Reformen hinterfragte. Die Antwort lautete, dass es derzeit noch "Gegenstand von Verhandlungen" sei, wie "das zukünftige Leistungsportfolio der KAV-Spitäler aussehen" werde. Eine "Versorgung auf höchstem Niveau" werde "auch zukünftig der Wiener Bevölkerung an vielen Stellen des KAV angeboten."

Es bleibt zu hoffen, dass diese Aussage stimmt. (Bernadette Grohmann-Németh, Leserkommentar, derStandard.at, 15.4.2014)