Frankfurt/Main - Ein Londoner Literaturwissenschafter
hat den ersten Prosatext des deutschen Dichters Gottfried Benn
(1886-1956) wiederentdeckt. Der Text mit dem Titel "Unter der
Großhirnrinde" wurde 1911 in der "Frankfurter Zeitung", einer
Vorläuferin der heutigen "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ),
veröffentlicht. Die FAZ druckt das vier ganzseitige Zeitungsspalten
umfassende Stück in ihrer Freitagausgabe. Benn habe Motive dieses
fiktiven Briefes später als "Steinbruch" verwendet, schreibt
Entdecker Andreas Kramer, den Text aber nie wieder veröffentlicht
oder auch nur erwähnt.
Die FAZ nannte die Wiederentdeckung des Prosastückes "eine
literarische Sensation". Kramer glaubt, Benn habe das Frühwerk später
"mit Absicht unterdrückt", um den Beginn seiner literarischen
Karriere mit den schockierenden Gedichten der "Morgue" (1912) "um so
wirkungsvoller als absoluten Anfang, als avantgardistischen Bruch mit
der Tradition zu setzen".
Erster literarischer Prosatext
Als "Unter der Großhirnrinde" am 15. Oktober 1911 erschien, hatte
der Medizin-Student Benn Kramer zufolge lediglich zwei Gedichte und
ein "Gespräch" veröffentlicht. Daher handle es sich bei dem
Frankfurter Stück "um den ersten literarischen Prosatext, den Benn je
veröffentlicht hat". In ihm habe er bereits "seine zentralen Thesen"
formuliert: Er stelle die humanistische Tradition und die moderne
Naturwissenschaft in Frage, erteile dem Positivismus eine Absage,
verweigere sich "dem Zweckrationalismus des modernen Lebens".
"Unter der Großhirnrinde" ist als fiktiver Brief geschrieben. Der
Ich-Erzähler, ebenfalls Mediziner, beschreibt darin seine Sehnsucht
nach Flucht vor seinem der Naturwissenschaft gewidmeten Leben. Er hat
das Gefühl, "als fräße mein Intellekt mein Gehirn auf", er fühlt
"alles Denken wie eine Flechte auf dem Gehirn": "Ich kann mich nicht
mehr (...) an der intellektuellen Befleckung der Welt beteiligen". (APA/dpa)