Heidi Klum trägt wieder Stirnfransen und Hotpants. Der Mini braust uns im Stadtverkehr um die Ohren, und im Kino kämpfen die drei Engel noch einmal für Charly. Die Föhnfrisur von Cameron Diaz als blonder Engel lässt zwar ein bisschen zu wünschen übrig, wenn wir gruppendynamisch Vergleiche anstellen und uns mit einem wohligen Schauer auf dem Rücken an die legendäre Farah Fawcett als Original-Engel aus den 70er-Jahren zurückerinnern.

Aber trotzdem. Seit der Jahrtausendwende scheint die Gegenwart keine Chance mehr zu haben: Wir kaufen uns um teures Geld jene Vintage-Designersofas aus den 60er-Jahren, die unsere Eltern und Großeltern schon lange auf dem Sperrmüll entsorgt haben, wir tragen wieder die original aufgelegten Turnschuhe von Adidas und Puma aus den 70er-Jahren, wo wir alle Björn Borg oder Martina Navratilova sein wollten und wir lassen uns wie in den 80er-Jahren die Haare vorne kurz schneiden und hinten lang wachsen - wie furchtbar wir damit auf dem Maturafoto aussahen, haben wir schon längst vergessen. Wahrscheinlich wird es nicht mehr lange dauern, bis die Technowelle aus den frühen 90er-Jahren ihren ersten Retro-Boom erlebt und wir wieder die ärmellosen Felljacken von damals auspacken.

Alles wird derzeit von einer Retro-Welle überrollt. Und es sind längst nicht mehr nur Trendsetter und Early Adapter, die dieser Mode frönen. Retro ist bei den Massen angekommen. Die Gegenwart hat eine neue Lieblingsdisziplin: die Rolle rückwärts.

Mögliche Erklärungen für diesen Boom sind so vielschichtig wie der Boom selbst. Doch von vorne: Der Retro-Boom ist 2003 nichts Neues, eher ein uns lieb gewordener Dauerzustand in fast allen Lifestylebereichen: Design, Mode und Autos, Musik, Film und Fernsehen. Überall werden die alten Schubladen aufgezogen, wird gekramt und dann wird gnadenlos redesignt, neu aufgelegt und gecovert. Warum bloß? Die Retrophilie ist mittlerweile so verbreitet, dass sich auch Zukunftsforscher mit den möglichen Antworten auf diese Frage beschäftigen. Matthias Horx, deutscher Zukunfts- und Trendforscher am Wiener Zukunftsinstitut, sieht in diesen Retro-Phasen so etwas wie eine "Verdauungsbewegung der Kultur". Kleine Verschnaufpausen sozusagen, in denen wir die Lücken mit Altem auffüllen, bevor wir wieder genauer wissen, wohin wir wollen. Und die kommen, laut Horx, in regelmäßigen Abständen: "Alle zehn Jahre gehen futuristische Phasen in regelmäßigen Wellenbewegungen wieder in Retro-Phasen über." Soll heißen: Erst war die DDR-Ostalgie der frühen 90er-Jahre, dann der Internetboom der vergangenen Jahre. Der ebbt jetzt wieder ab und hat eine neue Retro-Phase eingeläutet.

Ist es nicht ohnehin immer so: Je älter wir werden, desto nostalgischer werden wir. Die rund 30-Jährigen erleben das am intensivsten. Mit 30 beginnt die Jugendnostalgie. Wir nehmen noch einmal Abschied von der Kindheit, von der Jugend, letzten Endes vom Frei- und Ungebundensein. Wir gründen Familien und setteln uns - und denken zum ersten Mal an die alten Zeiten zurück: an die Zeiten von Eskimo-Eis und Afri Cola, an die Zeiten von Schlaghosen und orangen Wohnzimmertapeten, an die Zeiten von Biene Maja und Dallas. Und das alles wollen wir wieder haben und verlangen die Wiederholungen der Sendungen, mit denen wir groß geworden sind.

Und: Wir kriegen sie auch. Die Fundstücke aus den Archiven werden als TV-Kult verkauft - und die Fernsehsender sparen damit eine Menge Geld. Höhepunkt im Retro-TV: die preisgekrönte 80er-Jahre-Show auf RTL. Alle schwelgten in einer "Weißt du noch?"-Romantik und bestätigten einander, dass die Vergangenheit das Größte war. Wir begeistern uns für Sachen, die wir eigentlich schon kennen. Alles stagniert munter vor sich hin. Kein Wunder also, dass alte Hasen wie die Toten Hosen, Aha, Nena und Kim Wilde ein Comeback feierten. Und selbst der gute James Bond, sonst immer auf der Höhe seiner Zeit, kommt ohne den Blick zurück nicht aus: So trägt Halle Barry ebenjenen Bikini, mit dem schon vierzig Jahre zuvor Ursula Andress dem Meer entstieg. Aber ist dieses Zurückerinnern alleine schon retro? Streng genommen: nein, oder besser: nicht ganz.

Die Sache mit dem Retroboom ist komplexer, weil wir in komplexen Zeiten leben: wachsende Wirtschaftskrise, steigende Arbeitslosenzahlen, der 11. September und die Irak-Krise. Das alles führt zu einer wachsenden Verunsicherung. Die Folge ist ein Rückzug, sagen Trendforscher wie Matthias Horx: "Wir sehnen uns nach Halt in einer komplizierten Welt." Wir sehnen uns zurück: Wir kaufen Flokatiteppiche bei Ikea, hören die alten, neu gecoverten Songs der Eltern und bleiben neuerdings lieber zu Hause in den eigenen vier Wänden. Das Comeback der Retro-Möbel aus den 60er- und 70er-Jahren ist so etwas wie eine Sehnsucht nach Sicherheit. Und so absurd es klingt: Die Terroranschläge von New York haben ihre Spuren nicht nur in einem immer besser organisierten Überwachungsstaat hinterlassen, sondern eben auch in knalligen Farben und in der Gestalt von Schalensitzen und organisch geformten Möbeln in unseren Wohnzimmern. Die Möbelindustrie jedenfalls hat "Cocooning" oder "Homing" im neuen Retro-Look schon offiziell zum Trend ausgerufen.

Ohne Zweifel: Retro ist zu einem Marketinginstrument für verunsicherte und auch gelangweilte Konsumenten geworden. "Auf den Märkten ist nichts mehr interessant, was neu ist", sagt Trendforscher Horx. Eis lässt sich besser verkaufen, wenn wir uns erinnern, mit wem wir es früher geschleckt haben; ein Auto, wenn wir uns erinnern, wer damals mit uns in den ersten Urlaub gefahren ist. Und viel wichtiger noch: Die Retro-Manie ist zu einer ständigen Inspiration für neue Produktentwicklungen geworden. Und genau hier ist der Retro-Boom bei seinem innersten Kern angelangt: Retro ist nicht bloß ein Zurückerinnern, sprich bloße Nostalgie. Die Nostalgie lässt alles, wie es war. "Retro ist die Fusion von Alt und Neu", sagt Horx. Ein alter Käfer: Nostalgie; der neue Beetle: Retro. Der neue Beetle zitiert etwas Altes - aber er fährt viel schneller als der Alte.

"Es geht um die Neugestaltung von Produkten und deren Wiederauflage in einem neuen Kontext", sagt Horx. Nike kauft Converse, damit der größte Sportartikelhersteller der Welt auch in Sachen Retro-Boom bald die Nase vorne hat. Die gelungenen Fusionen und Neuinterpretationen im angebrochenen Jahrtausend sind schon zahlreich: der neue BMW-Mini zum Beispiel. Ähnlich gelungen: der 50er-Jahre Kühlschrank von Bosch, die neue Vespa, die neuen Originals-Kollektionen von Adidas.

Retro bedeutet also kulturelle Arbeit und kann deswegen nicht verkehrt sein. In der aktuellen Retromanie taucht nur langsam ein Problem auf: Die Abstände zwischen Original und seiner Wiederauflage in Retro-Verpackung werden immer kürzer. Die Vergangenheit wird langsam knapp: Zwischen dem Eames-Chair und seinem Revival liegen noch 55 Jahre, zwischen dem ersten Mini in den Sechzigern und seinem kultigen Retro-Redesign liegen 40 Jahre. Zwischen Nenas Hit "Irgendwie, irgendwo, irgendwann" von damals und Nena featuring Nena anno 2003 liegen nur noch 19 Jahre. Die Hoffnung besteht: Irgendwann wird sich die Retro-Manie ad absurdum führen, eine neue futuristische Phase eine Retro-Welle ablösen. Und wir werden wieder Kisten in den Keller tragen und die Sperrmülldeponien anfahren. Und wenn das erst einmal geschafft ist, sind wir dann wieder bereit: für die nächste Renaissance einer neuen alten Zeit. (Der Standard/rondo/Mia Eidlhuber/22/08/2003)