Rio de Janeiros neuestes Viertel liegt nur wenige Kilometer Luftlinie vom mächtigen Maracanã-Stadion entfernt, heißt Telerj und hat wenig Aussicht auf Bestand. Fieberhaft nageln auf dem Gelände, auf dem kürzlich ein Gebäude eingerissen wurde, 5000 Menschen Bretter und Plastikplanen zu Hütten zusammen. Der Bauplatz gehört einer Telekom-Firma, die die Räumung beantragt hat. Doch die Menschen, die hier sind, wissen nicht, wohin. Sie stammen aus den umliegenden Favelas, aber im Zuge der Immobilienblase im Vorfeld der WM sind selbst dort die Mietpreise so gestiegen, dass sie für viele nicht mehr bezahlbar sind.
Für Kellerlöcher in den Vorzeigevierteln Ipanema und Copacabana werden umgerechnet mehrere Tausend Dollar Monatsmiete verlangt, und selbst in der gefährlichsten Favela kostet ein Zimmer bis zu 150 Dollar - die Hälfte des gesetzlichen Mindestlohns. Obwohl die Regierung Hotels, Vermieter und Transportunternehmen zur Mäßigung aufgerufen hat, ist in dem südamerikanischen Land so eine Art Goldfieber ausgebrochen. Jeder will während der WM so viel Geld wie möglich scheffeln, um auf die Krise, die danach erwartet wird, auch vorbereitet zu sein.
Denn vom glänzenden Vorzeigeland scheint zwei Monate vor der Fußball-Weltmeisterschaft nicht mehr viel übrig zu sein. Das Wirtschaftswachstum ist abgeflacht, das Milliardenimperium des Paradeunternehmers, des Energie- und Baulöwen Eike Batista, ist pleite. Die Hoffnungen auf eine Rundummodernisierung des Landes haben sich nicht erfüllt. Städte und Regionalregierungen nahmen zwar freudig die Finanzmittel der Zentralregierung entgegen, doch längst ist klar, dass weder die Schwebebahn in Cuiabá noch die Metro in Belo Horizonte oder der Schnellzug zwischen Rio und São Paulo rechtzeitig fertig sein werden.
Mit Hängen und Würgen
Fraglich ist auch, ob die Flughäfen in Betrieb gehen können, die eigens privatisiert wurden - darunter jener von Belo Horizonte, der an ein Konsortium der Flughäfen Zürich und München ging. Wahrscheinlicher ist, dass die erwarteten 600.000 WM-Touristen an Baustellen abgefertigt werden. Zumindest Fortaleza und Cuiabá haben bereits angekündigt, provisorische Terminals in Zelten aufzustellen. Die letzten beiden Stadien, in São Paulo und Porto Alegre, werden wohl nur mit Hängen und Würgen fertig.
Weil auf den Baustellen nun nonstop Tag und Nacht gearbeitet wird, häufen sich die Unfälle. Sieben Arbeiter sind bisher ums Leben gekommen. Dabei werden mindestens fünf der neuen Stadien nach der WM nicht wirklich gebraucht: Brasília, Cuiabá, Natal, Manaus und Recife. "Die Euphorie ist vorbei, jetzt geht es nur noch darum, das Image zu retten", sagt Paulo Resende von der Stiftung Dom Cabral.
Hat sich Brasilien verkalkuliert? Das glauben zumindest die Finanzmärkte. Die Ratingagentur S&P wertete kürzlich brasilianische Staatsschuldpapiere ab. Mit elf Milliarden Dollar war die WM im Haushalt budgetiert, 40 Milliarden werden es nach einem Bericht des Senats wohl werden - so viel wie die letzten drei WM-Endrunden zusammen (Südkorea/Japan, Deutschland, Südafrika).
27 Milliarden Dollar erwartet die Regierung Brasiliens an Einnahmen - nach Auffassung von Barbara Mattos von der Ratingagentur Moody's zu wenig, um sich positiv auf die Konjunktur auszuwirken. "Das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein einer Volkswirtschaft mit einem Volumen von 2,2 Billionen Dollar."
Das Budget ist knapp geworden, und Präsidentin Dilma Rousseff ist zerrissen zwischen dem Drängen des internationalen Fußballverbandes Fifa und den Nachforderungen der Baufirmen einerseits sowie andererseits den Erwartungen einer Bevölkerung, der sie nach Protesten vollmundig versprach, in öffentliche Bildung, Transport, Sozialwohnungen und Gesundheit zu investieren.
Und jetzt zeigt auch noch das Programm zur Befriedung der Favelas in Rio, wo das Finale stattfinden soll, erste Risse. Rund ein Drittel der Favelas wurden in den vergangenen fünf Jahren friedlich vom Militär eingenommen. Dabei wurde zwar kein Blut vergossen, aber das Problem nur verlagert. Paramilitärischen Milizen und Drogenbosse flüchteten in benachbarte Viertel und Städte.
Neue Gewaltspirale
Zu Beginn war die Bevölkerung begeistert, nun wächst Unzufriedenheit. Die Anwohner warten noch immer auf die soziale Infrastruktur, die Mafia wittert eine Chance und kehrt zurück. Schusswechsel in der Favela Maré nahe dem internationalen Flughafen sind ein erstes Warnzeichen für eine aufziehende neue Gewaltspirale. Auch dass die Bürgerproteste während der WM wiederaufflammen könnten, macht Rousseff Sorgen. Sie hat die Polizei gegen kleinere Demonstrationen hart durchgreifen lassen, Aktivisten werden ausspioniert, Twitter- und Facebook-Accounts geschlossen. Alles in allem kein beruhigendes Szenario für eine Staatschefin, die im Oktober wiedergewählt werden möchte - außer Brasilien schafft den Hexa Campeão, den sechsten Weltmeistertitel. (Sandra Weiss aus Rio de Janeiro, DER STANDARD, 12./13. April)