Agrar-, Lebensmittel- und Handelskonzerne lieben uniformes Gemüse, uniformes Obst und uniforme Körner. Warum das so ist, weiß seit der berüchtigten Gurkennorm (die im Jahr 2009 das Zeitliche gesegnet hat) auch der Durchschnittskonsument: Die Vorgaben der EU zur Gurkenkrümmung sollten den internationalen Handel erleichtern. Standardisiertes Obst und Gemüse lassen sich von Maschinen einfach besser in standardisierte Schachteln verpacken. Daneben zählt auch das vermutlich nicht ganz von der Hand zu weisende Argument des Lebensmittelhandels, dass die Konsumenten Lebensmittel nur dann kaufen, wenn sie kosmetisch makellos seien. Der Konsument kaufe keine spitzen Karotten, sondern nur abgerundete, keine zu dicken, keine zu dünnen, er verschmähe Erdäpfel, wenn sie zu groß oder zu klein oder nicht gleichmäßig rund seien. Und selbstverständlich komme ihm die Gurke mit Krümmung nicht in das Einkaufswagerl.

Im Bild: Eine Designertomate aus dem Supermarkt, knallig rot, fest wie ein Gummiball, mit großer Wahrscheinlichkeit geschmacklos.

Foto: Arvay

Dem Agrarbiologen Clemens Arvay geht das kräftig gegen den Strich. Weil der Handel vor allem auf Einheitsware zurückgreife, bleibe auch den Produzenten kaum etwas anderes übrig, als solche Produkte zu herzustellen, moniert er in seinem neuen Buch "Hilfe, unser Essen wird normiert". Bis zu 50 Prozent der Erzeugnisse würden aussortiert, weil sie die kosmetischen Ansprüche der Lebensmittelkonzerne nicht erfüllen: gekrümmte Gurken, zu große Zwiebeln, zu kleine Äpfel, Birnen, die nicht der Normskala für die Schalenfärbung entsprechen. Alleine aufgrund dieser Tatsache würden sich Landwirte, die an Industrie und Großhandel liefern, regelrecht dazu genötigt sehen, auf Hybridsorten zurückzugreifen, damit die Ausschüsse nicht allzu hoch ausfallen. Das führt für Arvay gleich zum Kern des Problems: dem Saatgut.

Im Bild: Eine alte Karottensorte, süß und aromatisch soll sie schmecken. Bei Supermärkten und Diskontern würde sie durchfallen.

Foto: Reinsaat

Weil Karotten, Gurken und Bohnen nämlich zuweilen die Vorliebe haben, sich zu krümmen oder zu verbiegen, liegt es nahe, durch entsprechende Züchtungen der Natur Einhalt zu gebieten. Um standardisiertes Gemüse zu produzieren, braucht es das passende standardisierte Saatgut. Das sind die sogenannten Hybridsamen, die in der Regel im Labor entstehen, und zwar durch Selbstbefruchtung möglichst unterschiedlicher Elternlinien. Aus diesen Inzuchtlinien wählt der Züchter über Generationen hinweg jene aus, bei denen gewünschte Eigenschaften wie Größe, Form, Farbe und besondere Widerstandsfähigkeit möglichst deutlich zutage treten. Kreuzt der Züchter zwei dieser Inzuchtlinien, erhält er in der nächsten Pflanzengeneration Hybridsaatgut. Aus diesem wachsen Hochleistungspflanzen mit einheitlichem Aussehen und gleichen Eigenschaften, vor allem aber mit hohem Ertrag.

Im Bild: Eine Tomate, wie sie vermutlich so manch einer aus dem Garten der Eltern oder Großeltern kennt.

Foto: Arvay

Der Nachteil: Die positiven Eigenschaften gelten nur für die Erstaussaat. Man kann also nicht einfach die Samen dieser Pflanzen entnehmen und weiterpflanzen, so wie die Bauern es früher gemacht haben. Der Lohn ist allerdings möglichst wenig Ausschuss, möglichst brav gewachsene Pflanzen. Und hier sieht Agrarbiologe Arvay das nächste Problem: Moderne Industriesorten seien ertragreich und lukrativ, benötigen aber zum Wachsen Pestizide von Agrochemiekonzernen. Heutzutage würden die Konzerne nach dem Konzept vorgehen, Gesamtpakete zu verkaufen: einerseits Pestizide gegen Schädlinge und gleich dazu ein bestimmtes Saatgut, das besonders gut damit zurechtkomme. Für die Konzerne eine komfortable Situation.

Im Bild: Moderne Tomatenproduktion in Nürnberg.

Foto: Arvay

Was dabei unter die Räder komme, seien Ökologie, die kleinstrukturierte Landwirtschaft und vor allem der Konsument, ist der Buchautor überzeugt. Viele Kleinbauern seien gezwungen aufzuhören, weil sie durch den Druck der Großen nicht mehr mithalten könnten. Vor allem ortet er aber ein ökologisches Problem: "Seit 8.000 Jahren entwickeln sich die Kulturpflanzen unter Menschenhand weiter, passen sich an geänderte Klimabedingungen, verschiedene Standorte und die Bedürfnisse des Menschen an. Dadurch ist eine unsagbare Vielfalt mit einem unglaublichen ökologischen Wert entstanden. Was Arten und Sorten ausmacht, ist die Fähigkeit, ihre Gene weiterzugeben und sich an geänderte Bedingungen anzupassen. Durch den Totalumstieg auf die sogenannte Hybridtechnologie reißt die Entwicklung ab."

Im Bild: Die seltene Bohnensorte Blauhilde, industrielle Zuchtmethoden kamen bei ihr nicht zum Einsatz.

Foto: Pro Specie Rara

Nun mag der eine oder andere einwenden, dass der Produzent dennoch eine Wahl habe. Ein Argument, das Arvay nicht gelten lässt. Der Preisdruck mache das Wirtschaften mit weniger ertragreichen Sorten für die Bauern fast unmöglich. Ein Viertel teurer müssten die Tomaten sein, damit sich die Bewirtschaftung mit sogenannten erbreinen Sorten finanziell ausgehe, erzählt etwa ein Landwirt, der in seinem Betrieb sowohl Hybridsorten als auch erbreine Sorten verwendet, dem Buchautor. Glaubt man Arvay, ist es darüber hinaus gar nicht mehr so einfach, an solches Saatgut zu kommen: "Wenn Sie heute den Saatgutmarkt ansehen, finden Sie praktisch nur noch industrielles Designersaatgut." Das wiederum hat auch damit zu tun, dass laut EU-Richtlinie maximal zehn Prozent des Saatguts einer bestimmten Pflanzenart im Umlauf sein dürfen, das nicht von der EU zugelassen ist. Zugelassen seien in der Regel die Hybridsorten, so Arvay: "Samenfeste oder alte Sorten kommen oft nicht durch das Zulassungsverfahren und landen auf der sogenannten Erhaltungsliste."

Im Bild: Noch eine Tomate, die nicht dem industriellen Saatgut entsprungen ist.

Foto: Pro Specia Rara

Tomaten, Paprika und Melanzani schauen heute im Handel vielfach aus wie Plastik; dass sie oft auch so schmecken, ist die Kehrseite der Medaille, die mittlerweile vermutlich auch Konsumenten wahrnehmen. Dass sie den Marketingversprechen der Konzerne kritisch gegenüberstehen, hält Arvay für unerlässlich: "Die Industrie verhökert uns Dinge, die seit Jahrhunderten ganz normal sind, als ihre innovativen Erfindungen." Als Beispiel nennt er die Lycopin-Tomate, beider mit dem ohnedies in allen Tomaten vorhandenen Lycopin (gesunder Farbstoff, Anm.) geworben wird. Sein Ratschlag für die Konsumenten: "Scheuklappen ablegen, wenn es um Werbung geht, und sich einmischen."

Im Bild: Die alte Tomatensorte Ochsenherz entstand spätestens 1901.

Foto: Arvay

Auch was die Zukunft betrifft und die mit der Sache befassten Behörden, hat Arvay klare Vorstellungen: "Ich möchte, dass die EU ihre Verantwortung für eine nachhaltige Ernährungspolitik wahrnimmt, sodass sich Menschen auch in Zukunft noch ernähren können, und dass die EU ihre Kriterien für die Zulassung von Sorten überdenkt. Ich möchte, dass mehr getan wird, um Erhaltungszüchtern und Bauern ihre wertvolle Arbeit zu erleichtern. Eine Deckelung, wie viel nichtregistriertes Saatgut in Umlauf kommen darf, sollte meiner Ansicht nach komplett wegfallen, oder man muss sie zumindest deutlich dehnen."

Im Bild: Die Schwammgurke Luffa, eine sehr alte Kulturpflanze, die nicht nur der Ernährung, sondern auch der Rohstoffgewinnung dient. Aus dem getrockneten Faserkörper werden zum Beispiel Küchen- und Badeschwämme und Schuheinlagen hergestellt.

Foto: Arvay

Das Buch "Hilfe, unser Essen wird normiert. Wie uns EU-Bürokraten und Industrie vorschreiben, was wir anbauen und essen sollen" ist im Redline Verlag erschienen. Clemens G. Arvay studierte Biologie und angewandte Pflanzenwissenschaften in Wien und Graz. Als Agrarbiologe und Sachbuchautor beschäftigt er sich mit nachhaltigen und sozial verträglichen Formen des Landbaus und der Lebensmittelproduktion. Darüber hinaus unterrichtete er ökologische Landwirtschaft an der Fachhochschule Joanneum in Graz. Bekannt ist auch sein Buch "Der große Bioschmäh". (rebu, derStandard.at, 15.4.2014)

Foto: Verlag