Trojanows Operama

Unser gegenwärtiges Opernleben ist reichhaltig, aber ist es auch relevant? Auf subjektiv eigenwillige Weise, in einem literarischen Ton, wird Ilija Trojanow die Bedeutung des Musiktheaters heute anhand von aktuellen Aufführungen in Wien und anderswo unter die Lupe nehmen. Und sich immer wieder die Frage stellen, ob und wie sich unsere Zeit in den Inszenierungen widerspiegelt. Hintergrundberichte, Porträts und Interviews runden das Operama ab.

wunderzaichen – Mark Andre
25. März 2014, Oper Stuttgart (UA 2. März 2014)

Bild: Oliver Schopf

"Ein Ohrenzeuge ist mehr wert als zehn Augenzeugen."

Als ich vor einigen Jahren in einer Live-Sendung des ORF während der Salzburger Festspielen zaghafte Zweifel über die Aufführung von Luigi Nonos "Prometeo" in der Kollegienkirche äußerte, zeitigte mich Eleonore Brüning, ihres Zeichens Großkritikerin bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", des "falschen Hörens". Als ich ihre euphorische Kritik anlässlich der Uraufführung von Mark Andres "wunderzaichen" las, überkam mich die Sorge, ein weiteres Mal nicht richtig zu hören.

Also saß ich aufgeweckt wie ein Streber in der Stuttgarter Oper und spitzte alle Ohren. Ich vernahm sphärische Klänge, ich spürte eine unbestimmte Sehnsucht, vor dem inneren Auge fluoreszierte es. Ich dachte in freier Assoziation an Ungleichzeitigkeit und Automatisierungsprozesse.

Foto: A T Schaefer

Die Musik betrieb eine Geologie der Wolken, förderte bodenständige Klänge, sie sich elliptisch in die Lüfte schwangen. Materielles verrann in der Hemisphäre, das Fundament der Welt verflüchtigte sich ins Spekulative. Klanglandschaften, die schwer zu definieren und noch schwerer zu beschreiben sind. Meist sprach die Musik nicht zu mir, sie sprach über mich hinweg, und je länger der Abend andauerte, desto stärker beschlich mich der Verdacht, dass der Aufwand zum Inhalt geworden war.

Denn der Aufwand ist enorm, ein Teil des Parketts von einem riesigen Mischpult besetzt, zur Schaffung eines ungewöhnlichen Surround Sounds, inklusive verzerrten bzw. reduzierten O-Tönen, die im heiligen Land aufgenommen wurden. So ein Projekt bedarf schon bei seiner Entstehung besonderer Förderung – es wurde unterstützt von der Ernst von Siemens-Musikstiftung, dem Goethe-Institut Tel Aviv, dem Wissenschaftskolleg zu Berlin und Stefan von Holtzbrinck, durchgeführt mit dem Live-Elektronische Realisation Experimentalstudio des SWR. Mit vereinten Kräften wurde gewiss musikalisch Ungewöhnliches geschaffen.

Über die narrativen und dramaturgischen Aspekte dieses "Musiktheaters" lässt sich hingegen leichter schreiben und vortrefflicher streiten. Die Handlung spielt auf dem Flughafen von Tel Aviv, fast naturalistisch auf der Bühne dargestellt. Alles weitere ist fantastisch. Ein Gelehrter aus der Renaissance namens Johannes Reuchlin (eine Sprechrolle) fliegt ein, auf spät verwirklichter Pilgerreise. In ihm pocht das Herz eines anderen. Er ist sich somit seiner Identität nicht sicher, was Grenzbeamten selten einsichtig sein dürfte (um ihn herum überzeichnete Touristen und uniformierte Würdenträger aller möglichen Kirchen). Er wird im Niemandsland der Transitzone festgehalten, er lernt die rothaarige Maria kennen, er stirbt, er erlebt eine Wiederauferstehung, er wandelt durch den Terminal wie zuvor auch, er redet über Tod und Auslöschung, Unendlichkeit und Glauben, meist pseudo-metaphysische Gedanken der Sorte: "Wie ist es möglich, dass es keine rechte Zeit zum Sterben gibt?". So weit, so esoterisch.

Foto: A T Schaefer

Anfänglich dachte ich, es könnte sich um eine Variation auf jenes Thema handeln, dass Robert Stone in seinem grandiosen Roman "Das Jerusalem-Syndrom" umkreist: wie alle Verzückten in der heiligsten aller Städte einem sektiererischen Wahn anheimfallen. Dann vermutete ich, dass der mir leider unbekannte Humanist Johannes Reuchlin porträtiert werden würde. Dann hoffte ich, dass der Flughäfen als postmoderner Raum jenseits der Bürgerrechte thematisiert werde, als Verortung eines entfesselten Sicherheitssystems. Schließlich erlag ich kurz dem Irrlauben, die Situation eines Menschen, der mit dem Herzen eines anderen überlebt, könnte ernsthaft reflektiert werden. Nichts davon. Stattdessen deklinierten die Beamtinnen die Speisekarte des Fast-Food-Restaurants, während die Polizisten die entsprechenden Bestellnummern durchzählten, während Reuchlin Sätze von sich gab wie "Es gab so wenig Luft in der Luft, dass es keinen Sinn hatte, länger zu atmen." Spätestens jetzt holte ich tief Luft und atmete lange aus. 

Höhepunkt: Im zweiten Teil des Stücks findet Mark Andre in einigen Momenten eine bewegende musikalische Sprache für den Tod.

Coda: "Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken", forderte Luigi Nono von radikaler Musik. Meine Ohren wurden jäh aufgeweckt und dann verwirrt, meine Augen eingeschläfert, und mein Denken leider überhaupt nicht angeregt. (Ilija Trojanow, derStandard.at, 9.4.2014)