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Im Mai 2013 besuchte der türkische Regierungschef Tayyip Erdogan den US-Präsidenten Barack Obama in Washington. Angeblich soll es dabei auch um die "rote Linie" in Syrien gegangen sein.

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Einige der Opfer des Giftgasangriffs in Ghouta.

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Das Dementi des türkischen Außenministeriums war Montagabend noch nicht da. Doch dass es kommt, war im Grunde nur eine Frage der Zeit, und wer darin als verantwortlich bezeichnet würde für die ungeheuerlichen Vorwürfe gegen die türkische Führung, stand auch schon fest: die berüchtigte "parallele Organisation" von Fethullah Gülen, das Netzwerk des islamischen Predigers und Ex-Verbündeten des türkischen Regierungschefs Tayyip Erdogan mit seinen bezahlten "ausländischen Agenten" in der Weltpresse.

Der London Review of Books veröffentlichte am 6. April auf seiner Webseite als Teaser für die nächste Ausgabe (17. April) eine neue investigative Militär-und-Geheimdienst-Geschichte von Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh; der ist seit den 1960er-Jahren in diesem Geschäft. Thema dieses Mal: der Giftgasangriff in einem Außenbezirk von Damaskus vom August 2013 und wie die Türkei versucht hatte, die USA und den Westen in einen Krieg zu ziehen. Die Behauptung: Der türkische Geheimdienst hat im eigenen Land das Giftgas Sarin produziert, nach Syrien schaffen lassen, islamistische Rebellen im Gebrauch von Chemiewaffen ausgebildet und sie dann den Angriff auf den Vorort Ghouta am 21. August durchführen lassen. Hersh zitiert einen ehemaligen US-Agenten, der Zugang zu gegenwärtig aktiven Geheimdienstmitarbeitern haben soll, die wiederum mit dem Krieg in Syrien befasst sind: "Wir wissen jetzt, es war eine verdeckte geplante Aktion von Erdogans Leuten, um Obama über die rote Linie zu ziehen."

Die "rote Linie" hatte US-Präsident Barack Obama 2012 als Warnung an das Regime des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad gezogen. Einsatz von C-Waffen ist die rote Linie, legte Obama fest, nicht hinnehmbar für die USA. "The red line and the rat line" heißt der Titel von Seymour Hershs Bericht. Zwei Linien, die gewissermaßen senkrecht zueinander stehen: die rote Linie ist vor Assads Fuß gezogen worden, der "Rattenweg" ist geheim und führt von der Türkei über die syrische Grenze zu den Rebellen; sie bekamen Waffen aus dem Arsenal des gestürzten libyschen Diktators Gaddafi, schreibt Hersh, beschafft von der CIA und abgesprochen mit dem türkischen Geheimdienst MIT. Diese Art der Umwegsversorgung kennt man schon. Anfang der 1980er-Jahre ließ die US-Regierung unter Präsident Reagan die Contras in Nicaragua durch geheime Waffenverkäufe an den Iran aufrüsten (die Verantwortung dafür wurde Oliver North umgehängt, einem Militär im Nationalen Sicherheitsrat des Weißen Hauses). Der "Rattenweg" nach Syrien soll Anfang 2012 eröffnet worden sein, nach dem Terrorangriff auf das US-Konsulat in Bengasi in Libyen im September desselben Jahres stieg die CIA angeblich aus der Türkei-Syrien-Linie aus – zum großen Ärger der Erdogan-Regierung.

Der Clash kam im Mai 2013 während eines Abendessens im Weißen Haus. Das "Wall Street Journal" schrieb später darüber unter dem Titel "Turkey's spymaster plots own course in Syria", was so empörte Reaktionen aus dem türkischen Premiersamt und dem Außenministerium nach sich zog, dass man sie als Bestätigung der Vorwürfe nehmen konnte: Hakan Fidan, der Chef des MIT und ein enger Vertrauter Erdogans, nahm nach dem angeblichen Ausstieg der CIA die Sache in Syrien selbst in die Hand und ließ Waffen an die Nusra-Front und andere islamistische Rebellengruppen liefern, immer dem Glauben seines Premiers folgend, der Sturz von Assad stehe kurz bevor.

Erdogan begann bei dem Essen im Weißen Haus mit dem Finger zu wackeln, so ließ sich Hersh berichten. Die "rote Linie" in Syrien sei längst überschritten, erklärte der türkische Premier seinem Gastgeber. Und weil der US-Präsident kein Einsehen hatte, so die Aussage von Hershs Geheimdienstmann, sei drei Monate später eben der Giftgasangriff auf Ghouta inszeniert worden.

Hersh stützt sich auf eine Ereigniskette, die einige Unwägbarkeiten beinhaltet. Ein britisches Militärlabor habe eine Probe des angeblich in Ghouta eingesetzten Giftgases untersucht und festgestellt: Das Sarin stammt nicht aus den katalogisierten Vorräten aus sowjetischer Produktion, die bei der syrischen Armee eingelagert waren. Die Probe wiederum soll von russischen Geheimdienstleuten entnommen und dann an die Briten weitergegeben worden sein. Obama wurde davon informiert; dies soll ihn bewogen haben, den Angriff auf Syrien wieder abzublasen.

Ein Fehler findet sich schon einmal in Hershs Erzählung: Der US-Aufdecker führt das jüngst publik gemachte abgehörte Gespräch im Büro von Außenminister Davutoglu vom vergangenen März als Beleg dafür an, dass die Türken skrupellos die Provokation eines militärischen Konflikts mit Syrien ins Auge fassen. An der Runde bei Davutoglu nahm auch Hakan Fidan teil. Der Geheimdienstchef erklärte, er könne vier Männer auf syrisches Gebiet schicken und sie dann von dort aus Raketen in Richtung Türkei feuern lassen. Bei Seymour Hersh richtet Hakan diesen Vorschlag direkt an Erdogan. Der türkische Regierungschef saß aber gar nicht in Davutoglus Büro. (Markus Bernath, derStandard.at, 7.4.2014)