Die Befürworter eines Bettelverbots begründen ihre Position häufig auch damit, dass die Bettler in unseren Städten Mitglieder und Opfer organisierter Banden seien und nicht unterstützt werden sollten. Der Umstand, dass manche Bettler in einer Stadt untereinander in Kontakt stehen, wird häufig abschätzig und stigmatisierend als das Existieren "bandenhafter Organisationsstrukturen“ bezeichnet und in einem Atemzug mit kriminellen Banden gleichgesetzt. Wer für Bettler spende, unterstütze ergo mafiöse Netzwerke. Keine Spenden für Bettler, heißt die oftmals gehörte Conclusio. Eine Versachlichung der Diskussion ist nötig.

Organisierte Banden?

Faktum ist, dass wir über die bettelnden Notreisenden aus südosteuropäischen Ländern wenig bis gar nichts wissen. Wir kennen in der Regel ihre Namen nicht, wir wissen kaum etwas über ihre Herkunft und ihre Lebensgeschichte, die oftmals eine Überlebensgeschichte ist. Sie leben für einige Wochen zumeist völlig kontaktisoliert inmitten unserer Gesellschaft, um irgendwann wieder aus unserer Wahrnehmung zu verschwinden. Die einen gehen, andere kommen. Dies begünstigt interpretative Aufladungen und Fantasien über diese Menschen enorm.

Die Meinung der Existenz eines "organisierten Bettlerwesens" wird dabei nicht als Beschreibung, sondern als Vorwurf formuliert. Was also ist an der vorwurfsvoll geäußerten Einschätzung eines "organisierten Bettelns" dran? Das Wenige, was wir von bettelnden Menschen wissen oder wofür es Hinweise gibt, ist, dass viele von ihnen nicht alleine, sondern gemeinsam mit Familienangehörigen die weite Anreise etwa von Rumänien oder Bulgarien organisieren. So sparen sie Kosten und müssen nicht völlig isoliert von ihren Angehörigen wochenlang alleine in Österreich betteln. Sie scheinen sich auch bei der Aufteilung der Bettelplätze in irgendeiner Form abzustimmen und damit zu organisieren. Manche organisieren wohl auch ihre Schlafplätze, in ihren Autos oder unter regenschützenden Brücken.

Und manche treffen sich am Abend auf Plätzen, um miteinander in Kontakt zu treten. Aber hat diese Form der sinnvollen Selbstorganisation irgendetwas mit krimineller Energie zu tun? Mitnichten. Näher liegt die Deutung, dass diese Form der Selbstorganisation schlicht Ausdruck einer Überlebensstrategie in der Fremde ist. Viele dieser Notreisenden scheinen in der Erfahrung starker familiärer Bande ihr psychisches und soziales Überleben in der Fremde zu sichern. Eine extreme Notsituation stärkt familiäre Bande. Not hält Menschen zusammen.

Trotzdem hat sich das Vorurteil von "kriminellen Banden" bei vielen Menschen festgesetzt. Subtil wird mit der Verwendung des Bandenbegriffs eine sinnvolle und aus gesellschaftlicher Sicht eigentlich erwünschte Selbstorganisiertheit der Bettler kriminalisiert. Oder wäre es uns lieber, wenn sich die Bettler bei der Aufteilung ihrer Bettlerplätze nicht in irgendeiner Form abstimmen und täglich 25 Bettler vor den Toren der Dome unserer Landeshauptstädte in Gruppenform betteln?

Wem tun diese Bettler etwas, wenn sie täglich zwölf Stunden still auf einem frequentierten Platz unserer Städte sitzen? Woher kommt der heftige, negative Affekt, der diesen Notleidenden von manchen Menschen und politischen Gruppierungen entgegenschlägt? Der Anblick dieser BettlerInnen und die manchmal unausweichliche Begegnung mit ihnen tun unserer Seele etwas an. Und das gilt es ernst zu nehmen. Dem gilt es nachzugehen.

Die Angst vor dem Elend

Nicht die Armut, mehr noch: das Elend hat mit den südosteuropäischen Bettlern in unseren Städten in den letzten Jahren ein Gesicht bekommen. Der unmittelbare Anblick des Elends ist in unsere österreichischen Städte zurückgekehrt. Und das irritiert, belastet, verstört und verunsichert uns. Mit dieser Irritation müssen wir in Dialog kommen. Wir wollen diese tägliche, hautnahe Begegnung mit dem Elend nicht erleben. Wir können diesen Anblick nicht einfach wegzappen. Hinschauen? Wegschauen? Vorbeigehen?

Der kontaktlose, begegnungslose Anblick dieser Bettler erweckt Mitgefühl, Überforderung, schlechtes Gewissen oder auch Aggression. Oftmals steht dahinter auch Ohnmacht, manchmal vielleicht auch das Gefühl einer Grenzüberschreitung. Wir spüren instinktiv, dass wir überfordert sind, diesem konkreten Menschen nachhaltig zu helfen, der hier frierend am Straßenrand sitzt. Wir können die Not der Bettler, oftmals auch Bettlerinnen, höchstens lindern.

Eine wirkliche Verbesserung ihrer Lebenssituation werden diese Menschen nur erfahren, wenn sich die Wirtschafts- und zugleich die Sozial-, Gesundheits- und Bildungsstrukturen in ihren Herkunftsregionen verbessern. Wie sollen wir also diesen verarmten europäischen Mitbürgern begegnen?

Bettelgebote statt Bettelverbote

Aus ethischer Sicht muss die derzeitige Diskussion anders geführt werden. Wir benötigen eine Diskussion über Bettelgebote, nicht über Bettelverbote. Ein Gebot könnte lauten, dass wir diesen Menschen würdevoll und wertschätzend begegnen sollten. Keine/r dieser Bettlerinnen und Bettler hat sich ihr oder sein Schicksal ausgesucht. "Inklusion" heißt auf das Thema der Bettler angewendet: Die österreichische Gesellschaft ist stark genug, auch Bettlern ihren Platz zu geben. Das kann individuell bei einem freundlichen Blick beginnen und soll strukturell dazu führen, dass wir diesen Menschen Notschlafstellen und eine basale medizinische Versorgung zur Verfügung stellen.

Das Schlimmste, was einem Menschen neben seinem materiellen und gesundheitlichen Elend widerfahren kann, ist das Gefühl, ausgegrenzt und unerwünscht zu sein. Positiv gewendet: Die Bettler in unseren Städten spüren es, ob wir ihnen wertschätzend begegnen. Wir sollten uns als wohlhabende Gesellschaft daher in den nächsten Jahren die Herausforderung und Spannung zumuten, dass wir auf dem Weg zu den Salzburger Festspielen oder zu den Wiener Festwochen wertschätzend an Bettlern vorbeigehen. Lassen wir sie unter uns sein! Das wäre das ethische Mindestgebot.

Wer diesen Menschen hin und wieder etwas gibt, der wird seine Beweggründe haben, und wer es nicht tut, der wird sie ebenfalls haben und soll sich vor niemandem erklären müssen. Das Geben kann auch in der inneren Haltung der Würdigung seinen Ausdruck finden, mit der wir an diesen Menschen vorbeigehen.

Es ist keine 100 Jahre her, dass nicht wenige unserer Vorfahren mit Betteln hier in Österreich ihr Überleben sichern mussten. Das sollten wir nicht vergessen. Die Gnade der späten Geburt in einem wohlhabenden Land soll uns immer wieder für jene Menschen öffnen, die dieses Glück nicht erfahren konnten. Zudem bedarf es einer breiten Auseinandersetzung mit der Situation in den Herkunftsländern dieser Bettler. Die EU wird hier künftig verstärkt gefordert sein.

Der Glanz der Weltstadt Wien oder der Festspielstadt Salzburg wird keine Trübung erfahren, wenn die namenlosen Bettlerinnen und Bettler auf "ihren" Plätzen sein dürfen und ein Klima der Wertschätzung und Würdigung erfahren. Das heilt nicht deren physische, materielle und psychische Not, aber es gibt ihnen das Gefühl, eine Menschenwürde zu haben.

Das Wichtigste aber ist vielleicht unsere Bereitschaft, unser Interesse, mit den Bettlern in unseren Städten in Kontakt zu treten, vielleicht manchmal ihre Namen zu erfragen, ihnen zu begegnen. Kennenlernen und Begegnung ersetzt Projektionen durch Realität. (Leserkommentar, Michael König, derStandard.at, 7.4.2014)