Er sei 16 Jahre alt gewesen, als ihn das erste Mal das "F-Gefühl" zur Äußerung drängte. Mit "F" meinte Andreas Okopenko (1930-2010) das Wort Fluidum. Der Autor war gelernter Chemiker; als Lyriker ein Kopf mit wissenschaftlicher Vorbildung. Doch die Ursprünge der "fluidalen" Erlebnisart reichen tief in den Wurzelgrund der Jugend zurück. Okopenko kannte die fluidale Erlebnisweise bereits aus Kindertagen, als er 1946 das Bedürfnis verspürte, seiner Mutter von den Eindrücken des Vorjahres zu berichten.

In der Schulanstalt, die der Halbwüchsige besuchte, erzitterte das Gelände unter der Wirkung unzähliger Bombardements. Russische Panzer rasselten in den Apriltagen '45 über den Wiener Flötzersteig. Nicht allein die Schrecken waren es, die auf Okopenko einen unvergesslichen Eindruck machten. Der spätere Schriftsteller war von einem Daseinsgefühl überwältigt worden. Er empfand sich als glückliches Opfer einer Schwärmerei, die ihm "das ganze Gewebe des damaligen Lebens blitzend aufhellte".

Von vergleichbaren Schockerlebnissen ("Choc") hatte einst der jüdische Philosoph Walter Benjamin berichtet, als dieser daranging, die Geschichte der Moderne im neu errichteten Paris des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren.

Okopenkos Blitzerfahrung ist konkreter. Sie fußt auf dem Mitteilungsdrang, der jeden Dichter von einiger Sensibilität umtreibt. Sie meint ein Reaktionsgefühl auf einen Wirklichkeitsausschnitt. Man kann jenes getrost als euphorisch beschreiben; tatsächlich fühlt sich derjenige, der "fluidal" empfindet, besonders stark am Leben, ohne jedoch allgemein ergriffen zu sein. Als reizauslösend fungiert einzig die Wirklichkeit.

Charakteristischerweise ist Okopenko sehr genau in der Bestimmung aller derjenigen Erlebnisarten, die er keinesfalls mit "Fluidum" umschrieben hätte. Er meine nicht das gewöhnliche "Schönheit-Bewundern", das einen zu Jubelstürmen hinreiße. Überhaupt sind ihm "Glotzerei" oder "Knipslust" zweierlei Spielarten des nämlichen Gräuels.

Okopenkos Aufsatz Fluidum erschien ursprünglich 1979 in dem Band Vier Aufsätze. Als Untertitel stand dort zu lesen: "Ortsbestimmung einer Einsamkeit". "AOk", wie Freunde den in Floridsdorf lebenden Dichter nannten, schien entschlossen, das Fluidum-Erlebnis für sich zu reklamieren, damit er etwas hätte, das er mit anderen teilen könnte. Das "direkte Erkennen" der Welt ist noch kein Alleinstellungsmerkmal Okopenkos. (Die Lyrik dieses Autors gehört nebstbei zu den unübertroffenen Gipfelleistungen der österreichischen Literatur nach 1945.)

Was Okopenkos Erarbeitung der Erlebnisart "F" (wie Fluidum) so außergewöhnlich macht, ist ihr sittlicher Ernst. Nicht die Ähnlichkeit mit Formen fernöstlicher Wirklichkeitsbetrachtung ist von entscheidender Bedeutung. Die Erreichbarkeit des Fluidumglücks, das von Wolken ausgelöst werden kann, vom Prasseln des Regens auf eine Pelerine, ist nur dann von Wert, wenn es mit anderen geteilt wird.

Beschreibbar wird das Fluidum als "integraler Komplex aus Sachinhalt und Aufregung". Vermittelt wird das Gefühl durch eine Art sechsten Sinn. Der unterhält mit den anderen Sinnen nachbarschaftliche Beziehungen, ohne mit diesen identisch zu sein. Okopenkos Entdeckung ist auch deshalb von überragendem Wert, weil sie Untersuchungen von Marcel Proust und Ezra Pound triumphal bestätigt. Wer es nicht glaubt, genieße einen Bissen von einer Madeleine. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 8.4.2014)