Wenn jemand in diesen Tagen durch die Innenstadt von Budapest spazieren geht und die geschmackvoll angezogenen Menschen beobachtet, glaubt er in einer der wohlhabendsten Städte Europas zu sein. Die Fußgängerzone mit ihren Luxus-Labels und die hohe Bentley- und Porsche-Dichte suggerieren Erfolg und Reichtum, aber die Wirklichkeit ist das nicht.

Es sind nur sehr wenige, die dank der Gunst der jeweiligen Regierungen der vergangenen 20 Jahre durch Fleiß, aber noch öfter durch Korruption zu immensem Reichtum gekommen sind. Egal, ob die Sozialisten oder die jetzt regierende Fidesz-Partei, es scheint, als wollten alle nur eines: Geld. In den Nachrichten wird täglich über Korruption berichtet, aber die Anklagen verlaufen meist im Sand, schließlich sind fast alle Beteiligten, ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit, geschäftlich verquickt. Das Land wird systematisch ausgehöhlt, die dazu nötigen Gelder kommen größtenteils aus dem EU-Förderprogramm.

Niedrige Wahlbeteiligung

Als 2010 die aktuelle Regierung an die Macht kam, lag die Wahlbeteiligung gerade einmal bei 54 Prozent. Davon wählten aus Enttäuschung über die Korruption der Gyurcsany-Regierung 64 Prozent die Oppositionspartei Fidesz, also etwa zwei Millionen Menschen von rund zehn Millionen. Diese absolute Mehrheit nahm Fidesz zum Anlass zu verkünden: "Wir sind das Volk", und um ihre Behauptung noch zu verstärken, koalierte sie mit der ultrarechten Partei Jobbik. Ungarns Premier Viktor Orbán und seine Vasallen beanspruchen praktisch das ganze Land in allen Bereichen für sich. Kein gesellschaftliches Segment ist vor ihnen sicher.

2010 wurde sofort ein umstrittenes Mediengesetz verabschiedet, das sogar auf Widerstand der EU stieß. Alle wichtigen Positionen in TV, Printmedien und Nachrichtendiensten wurden mit parteitreuen Fidesz-Anhängern besetzt, mache mit den Ultrarechten der Jobbik-Partei. Die öffentliche Meinungsfreiheit wurde beschnitten, die Medien wurden zentral auf Parteikurs geschaltet. So sieht und hört man überall nur die Parteiinteressen kommuniziert. 

Einschnitte beim Kulturbudget

Dann folgte - weil moderne Denkprozesse nur stören - die Vernichtung des staatlichen Kulturbudgets, deren unmittelbare Auswirkung war, dass die ungarische Filmindustrie praktisch eingestellt ist. Ádám Csillag, seit 20 Jahren Spielfilmregisseur sagt: "Wir wollten es nicht wahrhaben, als die Medien das verkündeten. Wir alle sind praktisch über Nacht arbeitslos geworden, trotz vieler Erfolge des ungarischen Films im In- und Ausland."

Auch die Galerien und Museen wurden genau wie zuvor die Medien von den Fidesz-Leuten besetzt. Viktor Orbán und seine Truppe wollen nichts dem Zufall überlassen. Kontrolle war und ist die oberste Devise. So finden heute zum Beispiel Ausstellungen über die christlich-ungarischen Familienwerte der vergangenen 500 Jahre statt: Beginnend mit dem bürgerlichen Aufstand von 1848 bis zurück zum Patriotismus aus der Zeit der Kriege gegen die Türken im 16. Jahrhundert. Das sind dann die wahren ungarischen Werte im 21. Jahrhundert, einer Zeit der internationalen Globalisierung.

Intendant entlassen

Deswegen wurde auch der populäre und international anerkannte Regisseur und Intendant des National Theaters, Róbert Alföldi, über Nacht Anfang Juli vergangenen Jahres von der Regierung entlassen. Seine kritische Haltung und wachsende Popularität wurde den Machthabern zu unheimlich. Der Nachfolger? Einer aus der Fidesz-Puppenkiste. Alföldi im Interview: "Es ist so, als ob die Regierung Orbáns in der rasenden Geschwindigkeit einer sich ändernden Welt plötzlich stehen geblieben wäre, sich um 180 Grad umzudrehen und zu sagen: Unser Weg ist der richtige. Irgendwann wird die Welt es auch merken und uns folgen." Bizarr.

Die Verachtung der Regierung gegenüber Kreativen und Freidenkern ist fatal. Sie halten Kunst für überbewertet. Die Zerstörung der Autonomität kleiner Gruppen durch Einschüchterung ist All-tag. Erstrebenswert ist das konservative Familienbild Mann, Frau und Kinder, da- zu heimatverbundener Patriotismus. Sie verteufelt die Homosexualität und duldet nicht nur Antisemitismus, sondern auch Kriminalität aus rassistischen Gründen wie etwa gegen Roma. Die Bildungsgesetze, die 2012 verabschiedet wurden, rauben der Jugend die Zukunft. Viktor Orbán und seine Regierung halten das Land in Geiselhaft. Die EU schaut dabei zu.

Wahlgesetz geändert

Auch wenn die jetzige Regierung die Wahlen 2014 verlieren würde, sind diese vergangenen dreieinhalb Jahre aus der Sicht der globalen Entwicklung so destruktiv verlaufen, dass Ungarn fünf bis zehn Jahre brauchen würde, um alles wieder funktionsfähig auf europäisches Niveau zurückzubringen. Ein System, fast schon mitteralterlich feudal, das nur Herrschende und Untertanen duldet. Vor kurzem hat Orbán das Wahlgesetz zugunsten seiner Partei ändern lassen und mit seiner absoluten Mehrheit im Parlament durchgebracht.

In diesem Zustand fragten wir bekannte Intellektuelle und Kreative, wie sie ihren gegenwärtigen Alltag leben, was sie in ihren Bereichen tun, um alldem entgegenzuwirken: "Wenn wir schon untergehen, dann mit Stil", sagte der bildende Künstler Tibor Horváth. Hoffentlich nicht. (Album, DER STANDARD, 5./6.4.2014)