Es ist eine grobe sprachliche Übertreibung, wenn die jüngsten Spannungen zwischen der Nato und Russland wegen der Ukraine als neuer "Kalter Krieg" beschrieben werden. Davon kann - noch - keine Rede sein. Es droht auch kein heißer Krieg zwischen den Militärmächten. Aber es wird Auf- und Umrüstung geben.

Das Wesen der Ost-West-Konfrontation vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 bestand darin, dass sich mit der Nordatlantischen Allianz und dem Warschauer Pakt zwei Blöcke wechselseitig mit Auslöschung mittels Nuklearwaffen bedrohten, sollte es zu einem Angriff des (ideologischen) Gegners auf das eigene Territorium kommen.

Genau das ist bei der Ukraine eben nicht der Fall. Weder wird es zum Einsatz von Atomwaffen kommen, noch ist auch nur eine kleinere direkte Konfrontation von russischen Truppen und solchen der Nato zu befürchten. Wer das Szenario vom Krieg der Nato mit Russland schürt, lenkt vom eigentlichen Thema ab - und einer Möglichkeit, die für den Westen wie für Russland nicht weniger gefährlich ist: einem begrenzten Blitzkrieg, der bis zur großflächigen Besetzung der Ukraine durch Russland gehen könnte.

Das hätte in der Folge weniger militärische als verheerende wirtschaftliche Auswirkungen auf den ganzen Kontinent, der sich gerade in Zeitlupe aus der schlimmsten Krise seit den 1930er-Jahren herauswindet.

Die Ukraine ist ein unabhängiger Staat, der in der Vergangenheit zwar Ambitionen zeigte, der Nato beizutreten. Aber sie ist eben kein Mitglied. Die Allianz aber ist zuallererst ein Verteidigungsbündnis. Sie wird daher selbst im Fall einer militärischen Intervention russischer Truppen in der Ost- und Südukraine oder des Durchmarschs bis Transnistrien in Moldawien militärisch nicht eingreifen. Das hat der Nato-Oberkommandierende Philip Breedlove in mehreren Interviews, in denen er vor einer "unglaublich besorgniserregenden Lage" warnte, ziemlich deutlich durchklingen lassen.

Das sollte man vor allem deshalb vor Augen haben, weil Russland nach einer völkerrechtswidrigen Einverleibung der Krim gerade dabei ist, den Spieß umzudrehen, dem Westen Aggression, eine "Rückkehr zur Sprache des Kalten Krieges" vorzuwerfen, wie es zuletzt aus dem Kreml hieß. Nicht wenige im Westen glauben auch, dass EU und Nato die eigentlichen Aggressoren seien, weil die Union der Ukraine die Öffnung zu EU-Grundrecht und Wirtschaftsraum angeboten hat.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow setzt den alten Trick des legendären Vorgängers Andrej Gromyko ("Mr. Njet") ein, den dieser im echten Kalten Krieg oft verwendet hat. Wenn es gilt, vom eigenen Tun abzulenken, beschuldige den Gegner, setze ihn dafür ins Unrecht. Moskau hat 40.000 Mann aller Waffengattungen kampfbereit an der Grenze zur Ostukraine stehen, könnte nach Nato-Einschätzung binnen zwölf Stunden losschlagen. Folgerichtig fordert Lawrow nun empört Aufklärung über erste Truppenverlegungen der Nato in Osteuropa. Das könnte er sogar im Internet nachlesen, kein großes Geheimnis.

Die Nato-Außenminister haben ihre Militärs beauftragt, Strategie und Präsenz der Truppen in Mitgliedsländern völlig zu überdenken. Genau das wird als Folge der russischen Ukraine-Politik - leider - passieren: Aufrüstung in den Staaten Osteuropas, die seit 1989 fast demilitarisiert wirkten - verglichen mit der Zeit des Kalten Krieges. (Thomas Mayer, DER STANDARD, 4.4.2014)