Dass im Prater wieder die Bäume blühen, ist eine Frühlings-Binsenweisheit, die trotzdem stimmt. Und schön ist. Abgesehen davon lässt sich gerade heuer im Prater beim Laufen Neuland betreten

Nun ja: Wer fragt, riskiert ein Nein. Aber vermutlich hätte mein Hausarzt auch ungefragt "Njet" gesagt: Der Mann kennt den Laufkalender. Und statt nach vier Wochen Dauerhusten ein Marathon-Placet bekam ich eine Überweisung zum Pulmologen. "Zur Sicherheit." Und der sagte auch "Nein, die volle Strecke spielt es nicht". Über den Halbmarathon konnten wir verhandeln: "Na gut. Aber nicht schnell. Versprochen?" Meinetwegen. Wird es halt am 13. April eine Genusslauferl.

Doch auch dazu braucht man ein paar Kilometer in den Beinen. Zum sich wieder Spüren ist da die Hauptallee ein brauchbares Pflaster. (Ja eh, sagen Sie es nicht meinem Arzt: Ich habe Intervalle trainiert.) Dass die Pause zwischen dem vorletzten und dem letzten Intervall länger dauerte, brachte mich zum Thema zurück: Genuss. Die Obstschale am Straßenrand kam mit der Einladung klugzuscheißen. Vor der Kamera.

Foto: Thomas Rottenberg

Das Filmteam machte Interviews. Thema: Gesundheit, Vorsorge, Bewegung und Ernährung. Fünf Minuten, sagte der Bursch, der mich abgefangen hatte. Wenn der Kunde - eine Versicherung - vom Geschwurbel etwas nehme, gebe es ein Taschengeld. Obst sowieso.

Ein Genussläufer mit übersteigertem Geltungsdrang sagt dazu nicht Nein. Und den Kollegen beim Arbeiten zuzusehen war fein: Wie ein Kamerateam mit der Umwelt interagiert, sagt viel über das zu erwartende Produkt aus. Die Sabotage-Film-Crew war gut: Ich habe schon Traber erlebt, die bei einzelnen Joggern auszuckten. Das Funktionieren einer Begegnungszone hängt eben immer von allen Beteiligten ab.

Foto: Thomas Rottenberg

Eigentlich wollten die Versicherungsleute "Normalo"-Statements. Aber in der Zeit, in der ich dort war, funktionierte das nur bedingt. Wieso? Nun, man schnappte vor allem Leute an, die offensichtlich eine Ahnung vom Laufen hatten.

Und dass Caro - sie kam nach mir - sagen würde, sie esse nur "Pizzaburger und was aus Tiefkühltruhe oder Fritteuse kommt", war eher unwahrscheinlich. Sie kam auch mit den Fingern bei gestreckten Knien bis zu den Zehen: Die Dame läuft zumindest semiprofessionell - und hatte brav ihre Sponsorenpickerln dabei.

Foto: Thomas Rottenberg

Zu den schönen Dinge bei der Vorbereitung auf längere Bewerbe gehört das Training in der Gruppe. Und das Tolle an meiner Gang ist, dass wir zwar alle ernsthaft laufen - es aber nicht nur ernst nehmen: Die großen Distanzen hat sich jeder und jede schon bewiesen. Dass keiner von uns auf einem relevanten Stockerl landen wird, ist klar. Und ohne diesen Druck kann man warten, bis die Ampel grün ist. Oder hat Zeit für Schabernack, anstatt (wie die Herren im Bildhintergrund) fast über den Haufen gefahren zu werden.

Foto: Thomas Rottenberg

Darüber hinaus ist Gesellschaft fein: Christoph, der Herr rechts im Bild, lässt jeden von uns stehen, wenn er ein bisserl Gas gibt.

Aber: Wozu? Tratschend und lachend durch den Volksgarten zu hoppeln ist manchmal auch fein. Und  die "langen Langsamen" sind ohnehin das Fundament, auf dem Ausdauer basiert. Außerdem: Nach den Sonntagsläufen wird gebruncht. Wer da als Erster zu Hause ist, steht am längsten in der Küche.

Foto: Thomas Rottenberg

Man kann aber auch ideologisch laufen. Für die Krebsforschung. Für Tierschutz. Für Flüchtlinge. Oder für Awareness: Ich wurde zum Beispiel gerade als "Mitläufer" für die Europawahl shanghait. Denn trotz aller Polit-Verzweiflung: Nicht wählen gehen macht es nicht besser.

Am Sonntag liefen im Prater etwa 100 Ägypter: halb verschleierte Frauen, Kinder mit arabischen Slogans auf ihren Startnummern und Männer mit Shirts, die das Vier-Finger-Logo des Aufstands trugen. "Sind das nicht die Bösen?", fragte einer aus der Gruppe. Ich gab die Frage weiter an Gudrun Harrer: "Muslimbrüder", mailte die STANDARD-Nahostexpertin.

Nachsatz: "Aber die anderen sind auch böse." Natürlich habe ich den Mann im Shirt gefragt, wofür er laufe. Aber nach "Wir sind Ägypter ..." stolperte ein kleines Mädchen, stürzte und weinte. In der Sekunde war ich vergessen: Zuerst einmal sind wir Menschen. Oft Eltern. Sting sang einst "I hope the Russians love their children too." Der kleinste gemeinsame Nenner. Hoffentlich.

Foto: Thomas Rottenberg

Diesmal gab Christoph die Route vor: "Ich war schon ewig nimmer im Wurstelprater", hatte er angemerkt. Daher führte er uns in einer langen Schleife zwischen Ringelspielen, Hutschen und Schleudern herum.

Irgendwie juckte es uns wohl alle ein bisserl, hier wieder einmal zu überprüfen, wie gut wir und unsere Mägen wohl mit Hoch- und Querbeschleunigungen umgehen könnten. Vor, aber auch nach dem Langos- und Schweizerhaus-Pflichtprogramm.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber Christoph hatte mehr zu bieten. "Habt ihr euch schon mal die neue WU angeschaut?" Wir nickten: Klar, den Weg von der Hauptallee rauf zur U2-Station Krieau, zwischen Parkhaus und Trabrennbahn, kannte wohl jeder. Am Weg zum Training. Am Weg vom Training. Oder einfach so. Eh ganz nett. Aber nix Besonderes. Oder? "Nein, das meine ich nicht: Wart ihr schon mal drin? Am Campus?"

Foto: Thomas Rottenberg

Nö, waren wir nicht. Aber ehrlich gesagt hatte es mich bisher auch nicht sonderlich gereizt, hinter die erste Häuserreihe zu schauen. Was sollte da schon sein? Eine zweite. Nutzbauten. Vermutlich war das Nichtdortgewesensein ein Vorteil: Just jetzt, im Frühling, bei Kaiserwetter und bei Knallfarbensonnenschein hierher zu kommen, war natürlich doppelt überraschend. Und wirklich eindrucksvoll.

Foto: Thomas Rottenberg

Wie so oft in solchen Augenblicken kam da eine alte Melodie zurück: "At home he feels like a tourist" hatte die Gang of Four einst gesungen. Die Leute, mit denen ich heute unterwegs bin, haben zu New Wave und Punk so wenig Bezug wie ich zur Brailleschrift. Also keinen.

Vermutlich steht irgendwo in der Nähe dieser "beschrifteten" Bank ja auch, was drauf steht - aber zum Stehenbleiben und Suchen war dann doch keine Zeit.

Foto: Thomas Rottenberg

Vielleicht - gerne! - ein anderes Mal. Schließlich machten die ein paar Meter weiter in der Sonne Frühstückenden Lust aufs Dableiben und Faulenzen. Ich hatte zehn Euro dabei. Die anderen gar kein Geld. Zum Glück. Denn eines ist klar: Bei diesem Wetter (und nach zehn Kilometern noch vor dem Frühstück) stehen bleiben und hinsetzen heißt ganz klar: sitzen bleiben.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber das war heute eben nicht der Plan. Nach der WU ging es hinüber zum "Viertel Zwei", dem Bürokomplex hinter der Trabrennbahn. Auch hübsch - und auch wenn es nicht ganz so neu ist, für vielen Wiener immer noch "too far off". 

Dabei ist man mit der U-Bahn in 12 Minuten im Zentrum. Blöderweise waren mir die paar Wohnungen, die hier gebaut wurden, ein kleinwenig zu teuer. Jetzt sind die mit Blick von der Lobau bis fast zur Steinhofkirche unerschwinglich. In diesem Leben geht sich das nimmer aus.

Foto: Thomas Rottenberg

Was mich hier immer gereizt hat: Der Blick von oben auf die Traberstallungen und die Rennbahn mit ihren alten Tribünen und Bauten. Und der Geruch von Pferden. Ein bisserl halt. Die "kreativen" Details an den alten Betonbarrieren zu den Spazierwegen hatte ich bisher aber immer übersehen.

Foto: Thomas Rottenberg

Obwohl die in jeder Hinsicht unterhaltsam sind. Und lehrreich. Die Gang fand das Transparent als Gesamtkunstwerk groß. Ich war unschlüssig, ob ich "Natursprung" oder "Getriebesamung" mehr bejubeln sollte. Und ob ich wohl je eine Möglichkeit fände, diese Verbal-Kleinode auch in ein stinknormales Gespräch einfließen zu lassen.

Foto: Thomas Rottenberg

Vom Prater in die Stadt gibt es zahllose Routen. Bei Sonnenschein ist mir die entlang des Donaukanals am liebsten. In den Stadtpark verschlug es uns aber aus einem anderen Grund: Wasser. Ich selbst bin ein (Zu)-Wenig-Trinker.

Die Damen sind da vernünftiger. Wegen der Wintersperre der diversen Trinkbrunnen hatten wir aber die Standorte nicht mehr abrufbar - nur das "Donauweibchen" im Park fiel mir ein. Blöderweise war just dort der Winter noch nicht vorbei - aber solange der Strauß-Schani in der Sonne golden glänzt, ist das nicht weiter schlimm. (Wasser gab es im Marriot: Hoteltoiletten können Leben retten.)

 

Foto: Thomas Rottenberg

Wenn schon Touri-Motive, dann richtig. Außerdem ist der Weg quer durch die City angenehmer als rund um den Ring.

Nicht wegen den paar hundert Metern, die man sich erspart: Die Luft auf Graben und Kohlmarkt ist einfach besser als jene entlang der Ringstraße. Vor allem, wenn man spät dran ist.

Foto: Thomas Rottenberg

Und man sieht mehr als Autos: Die Polizisten und Hubschrauber unterwegs hatten wir dem Besuch des israelischen Staatspräsidenten zugerechnet - vor der Hofburg hatten die Cops noch eine Ordnungsaufgabe: Ukrainer demonstrierten gegen Putin.

Wie zuvor bei den Ägyptern waren wir ein bisserl zwiegespalten: Früher war alles einfacher. Da gab es Gut und Böse. Ost und West. Räuber und Gendarm. Cowboy und Indianer. Aber mit "es ist kompliziert" macht man sich leider nur auf Facebook interessant und attraktiv

Foto: Thomas Rottenberg

Zum Glück kann ich mich hier aber auf die Bobo- und Hedonistenposition zurückziehen: Das hier ist schließlich das Lifestyle-Resort. Und Laufen nur Laufen. Wer braucht da Position, Standpunkt oder Haltung? Noch dazu im Frühling. Ok: Das war natürlich gelogen.

Aber gerade weil Laufen den Kopf frei macht und man dann anfängt, auch über solche Dinge zu reden, beneideten wir diejenigen, die beim Oberflächlichen tatsächlich nur an der Oberfläche bleiben können dann am Heimweg einigermaßen. 

Foto: Thomas Rottenberg

Andererseits: Wollen wir das wirklich? Die Kunst liegt vielleicht darin, beides zu schaffen. Die Gratwanderung jeden Tag aufs Neue zu versuchen - und nicht abzustürzen.

Weder ins Eskapistisch-Banale, noch ins Verbiestert-Frustrierte: Sich vom Zustand der Welt und dem Sperrfeuer aus Unsinn, Dummheit und Niedertracht nicht die Freude am Leben vergällen zu lassen, braucht Ventile. Laufen ist eines davon. Eine Möglichkeit. Für mich.

Foto: Florian Albert/www.floalbert.net

Weil: Gar keinen Spaß zu haben würde nur eines ändern. Aus halb voll würde halb leer. Aus „eine Andeutung von bunt“ einfach nur „matt und fahl“. U am schlimmsten: Aus Gemeinsam würde einsam. Oder, um nach der Sting und der "Gang of Four“ auch noch REM zu strapazieren: "It´s  the end of the world, as we know it - (but I feel fine)“.   

 (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 3.4.2014)

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Foto: Florian Albert/www.floalbert.net