Trojanows Operama

Unser gegenwärtiges Opernleben ist reichhaltig, aber ist es auch relevant? Auf subjektiv eigenwillige Weise, in einem literarischen Ton, wird Ilija Trojanow die Bedeutung des Musiktheaters heute anhand von aktuellen Aufführungen in Wien und anderswo unter die Lupe nehmen. Und sich immer wieder die Frage stellen, ob und wie sich unsere Zeit in den Inszenierungen widerspiegelt. Hintergrundberichte, Porträts und Interviews runden das Operama ab.

Lucia di Lammermoor – Gaetano Donizetti.
23. März 2014, Deutsche Oper Berlin

Bild: Oliver Schopf

Repertoireopern sind die Wiener Schnitzel des Musiktheaters: auf jeder Speisekarte anzutreffen, zuverlässig beliebt und begehrt, richtige "cash cows" (auf Neudeutsch gesagt). Connaisseurs mögen die Nase rümpfen, Kritiker blasiert abwinken, das Publikum bestellt, was es kennt und goutiert. Anfang des Jahres saß in der Wiener Staatsoper ein gemütlicher Herr hinter mir in der Loge, der sich zum 25. Mal die uralte Inszenierung der "Tosca" zu Gemüte führte. Auf meine Frage, ob er sich denn nicht eine neue Inszenierung wünsche, antwortete er mit einem entschiedenen Nein: "In dieser fühle ich mich wohl wie im eigenen Wohnzimmer."

Foto: Bettina Stöß

An diesen Herrn und seinen legitimen Bedürfnissen musste ich denken, als ich in der Deutschen Oper in Berlin saß. "Und, war’s wieder eine der berüchtigten Avantgarde-Inszenierungen", fragte mich ein Berliner Freund nach der Aufführung. Nein, es war Repertoire, 1980 inszeniert und seitdem sage und schreibe 128 Mal aufgeführt. Ein Herr namens Filippo Sanjust zeichnete damals für Regie, Bühne und Kostüme verantwortlich (angeblich sang er zudem den Edgardo und bediente das Lichtpult). Das muss nicht so schwer sein, wie es sich anhört, wenn man sich in keinem der Bereiche besonders anstrengt. Die Ausstattung scheint noch von der Uraufführung übriggeblieben zu sein. Ein Pappfelsen hier, eine Pappsäule dort. Nachthimmel und Mond werden sehr ernst genommen. Die Lichtregie vertraut auf sublime Unterbeleuchtung, was in Berlin größtem Opernhaus, einem funktionalen Bau aus dem Jahre 1961, besonders ins Gewicht fällt, wo der Orchestergraben so breit ist, dass selbst von der 13. Reihe aus die Sängerinnen und Sänger wie auf dem Deck eines anderen Schiffs stehen. Es gab einen einzigen gewitzten Moment, als Männer und Frauen durch eine gewaltige Säule auf der Bühne feinsäuberlich voneinander getrennt waren und nur der Priester auf der "falschen" Seite bei den Frauen stand (vielleicht war es Witz durch Zufall). Mit anderen Worten: Die Inszenierung gab sich Mühe, beim Musikgenuss nicht stören.

Und die Musikdarbietung war großartig – engagiert, präzise, zunehmend intensiver, dramatisch hochwertigster Wohlklang – auch wenn alle drei Hauptrollen mehr oder weniger kurzfristig umbesetzt werden mussten. Sängerinnen und Sänger sind zarte Naturen, so oft wie sie sich indisponiert melden oder ihren Wunsch, eine neue Rolle einzustudieren, nachträglich bereuen. Ärztliche Atteste, das ist ein offenes Geheimnis, sind so leicht zu ergattern wie sie rasch ausgestellt sind. Erstaunlich aber, wie es den Opernhäusern gelingt, Ersatz zu finden, in diesem Fall am Tag der Aufführung selbst, denn der vorgesehene Celso Albelo hatte um 11 Uhr in der Früh abgesagt. Zu diesem Zeitpunkt saß Josep Kang in Wien und freute sich auf einen gesangsfreien Sonntag. Am Abend stand er auf der Berliner Bühne und sang beeindruckend.

Foto: Bettina Stöß

Doch so bravurös der Gesang auch war, die Grenzen von Repertoire und Routine wurden sichtbar in der berühmten Wahnsinnsarie. Die stimmlich hochbegabte Burcu Uyar wusste mit ihrem Körper wenig anzufangen und behalf sich mit hilflosen Gesten, die der musikalischen Stimmung fast widersprachen. Wahnsinn ist nicht so leicht darstellbar. Was für ein Unterschied zu der Verkörperung der Rolle durch Ana Durlovski neulich in Stuttgart, bei der jede Regung und jede Geste mit Tönen und Worten abgestimmt war, als hätte sie jeder Irrung und Wirrung nachgespürt.

Höhepunkt: "Nicht einmal die Toten werden mich trösten." (Egardos Schmerzensgesang, Libretti sind manchmal besser als ihr Ruf)

Coda: In nur sechs Wochen komponierte Donizetti "Lucia di Lammermoor". Mit einem derartigen Pensum ruinierte er seine geistige Gesundheit. Er hat sich buchstäblich zu Tode komponiert, dafür aber mit dieser Oper das Teatro San Carlo in Neapel vor dem finanziellen Ruin bewahrt. Und seitdem manches Haus mitfinanziert. Das ist ihm zu danken. Von der wunderbaren Musik ganz zu schweigen. (Ilija Trojanow, derStandard.at, 1.4.2014)