Ästhet und Donnerer: der 1952 verstorbene Dichter Jesse Thoor, der 1905 als Sohn Mühlviertler Eltern in Berlin geboren wurde.

Foto: Wallstein-Verlag

Nun ist, nach der Pioniertat von Michael Hamburger, dem wir das Sammeln biografischer Daten zu Jesse Thoor und eine längst vergriffene Werkausgabe zu verdanken haben, eine Gesamtausgabe der Werke des in Berlin als Sohn Mühlviertler Eltern geborenen Peter Karl Höfler (Jesse Thoor) erschienen. Das abenteuerliche Leben von Jesse Thoor - dieses Pseudonym leitete er einerseits ab von der Bibel (Jesse war der Sohn Davids und galt als Psalmist und damit als Prototyp des Dichters), andererseits vom Gott Thor (die Verdoppelung des Vokals erfolgte aus ästhetischen wie phonetischen Gründen) - führte den 1905 im Berliner Arbeiterbezirk Weißensee geborenen Dichter immer wieder auch nach Österreich.

Nach seiner abgebrochenen Ausbildung als Zahntechniker ging er als Feilenhauer in die Lehre; darauf folgten Jahre auf der Walz, lebte er in Rotterdam (wo er auf Küstenschiffen anheuerte) und bettelte sich u. a. durch Grazer Klöster, wie auch ein Sonett, nach 1934 entstanden, bezeugt: "Ein Mönchlein geht vorbei mit Kutte und gebräunter Hand. / Wie Staub zerfällt die Nacht auf fahler Erde. / Vergeblich stehst du noch und zögernd an der dunklen Wand. / Und schamlos wird und dringlicher die flehende Gebärde." In der nächsten Strophe kommt auch der frühe Tod seiner Mutter zur Sprache: "Du fragst nicht mehr, wer deine Lieder umgebracht. / Dir ist, als müßtest du der toten Mutter schreiben: / Sieh hier - ich bin ein armer Lump, der höhnisch lacht, / wenn satte Menschen ihn von Tür und Hof vertreiben."

Er war in jungen Jahren Kommunist, hisste in Berlin, nach Jahren unterwegs durch halb Europa, auch noch nach der Machtergreifung durch die Nazis rote Fahnen. Der SA entging er immer wieder, einmal indem er sich im obersten Geschoß eines Hauses aus dem Treppenhausfenster hinaus auf die Dachrinne schwang und daran hängend dort verharrte, bis die Verfolger abgezogen waren.

Er konnte sich binnen weniger Tage ein neues Handwerk anlernen (als Gold- und Silberschmied dürfte er am liebsten gearbeitet haben), modellierte, künstlerisch begabt, auch gerne mit Ton.

Im Brünner Exil - nach dem Einmarsch der Nazis in Österreich musste er auch aus der Wiener Wohnung seiner Tante fliehen - modellierte er eine Benes-Büste, von der Abgüsse angefertigt wurden, die er, um sich finanziell über Wasser zu halten, verkaufen konnte. Ständig von der SS und Gestapo gehetzt, gelang ihm von Brünn aus über Prag die Flucht nach England. Dort wurde er, wie so viele, zuerst einmal als feindlicher Ausländer interniert, zuletzt auf der Isle of Man, wo er den 1908 in Gmunden geborenen Maler Hugo Dachinger kennenlernte, dessen Porträt des Dichters nun die Schmuckhülse der Wallstein'schen Werkausgabe ziert.

Michael Hamburger beschreibt Thoor - sie hatten einander in London kennengelernt - als selbstlos und freigiebig. Er weigerte sich grundsätzlich, von Freunden und Bekannten Bezahlung anzunehmen, die er dringend benötigt hätte. Auch den Hochzeitsring, den er für Hamburgers Frau anfertigte, ließ er sich nicht bezahlen. "Die bürgerlichen Konventionen und Werte lagen dem christlich-visionären Dichter der letzten Jahre noch viel ferner, als dem 'roten' Vagabunden der früheren" , schreibt Michael Hamburger.

Michael Lentz stellt in seinem poetologischen Einleitungsessay Jesse Thoor als Sonettdichter wohl begründet neben Rilke, Trakl, George und Friedländer. Bei Thoor wird jedoch der klassische Vierzehnzeiler konfrontiert mit dem ethischen und politischen Desaster der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - existenziell erlitten von ihm selbst durch innere und äußere Erfahrung. In der Königsdisziplin der Poesie schreibt er beispielsweise Irrenhaussonette; im "Nachsatz" zum zweiten Irrenhaussonett, ebenfalls ein Vierzehnzeiler, heißt es: "Doch mehr noch als die Filzlaus, Krot und Küchenschabe / verachte ich das satte Spießerpack im Sonntagskleid / (...)".

Substantive wie Galle, Eingeweide, Peitscherlbub, Lump und Eckensteher sind keine Seltenheit (was aber nicht heißt, dass er sich nicht auch den "hohen Ton", vor allem aus der Bibel, zu Eigen gemacht hätte). "Er war ein feinfühlig melancholischer Ästhet und zugleich ein mahnender Donnerer", so Michael Lentz. Begründen lässt sich dies auch mit seinen Anrufungs-, Rede- und Rufsonetten. Zitiert sei hier das Frühlings- und Liebesgedicht Rufe zur Nacht, in dem schließlich in einer sich auflösenden Dialektik zwischen einer physisch-mentalen Befindlichkeit und zyklischen Naturvorgängen eine innige Todes- und Liebesmetaphorik entsteht: "Ich, der Dichter Jesse Thoor - / dem Zünglein, Zeh und Ohr / und die Seele fror! // Wenn der März alle Bäche taut, / singe ich wieder laut! / Du meine hohe Braut! // Singe ich dein Herz gesund! / Du meines Sterbens Grund! / Küsse ich deinen Mund!"

Dem schön gestalteten, in Leinen gebundenen Band sind auch zahlreiche Briefe beigefügt, so auch an seinen Förderer Hubertus Prinz zu Löwenstein (der als Generalsekretär der American Guild for German Cultural Freedom dem mittelosen Exilanten in London Anfang der 40er-Jahre mit einem Stipendium aushalf), sowie Erzählungen, in denen Thoor soziale Ungerechtigkeit und politische Konflikte gestaltete - Situationen, von denen man weiß, dass sie vom Autor nicht erfunden, sondern erlebt worden sind. Dem Aufruf von Michael Hamburger pflichtet der Rezensent gerne bei: "Überhaupt erfordert das Werk Jesse Thoors vorerst nichts anderes, als dass es endlich gelesen werde." (Richard Wall, Album, DER STANDARD, 29./30.3.2014)