Trojanows Operama

Unser gegenwärtiges Opernleben ist reichhaltig, aber ist es auch relevant? Auf subjektiv eigenwillige Weise, in einem literarischen Ton, wird Ilija Trojanow die Bedeutung des Musiktheaters heute anhand von aktuellen Aufführungen in Wien und anderswo unter die Lupe nehmen. Und sich immer wieder die Frage stellen, ob und wie sich unsere Zeit in den Inszenierungen widerspiegelt. Hintergrundberichte, Porträts und Interviews runden das Operama ab.

Die Passagierin – Miecysław Weinberg. Libretto: Alexander Medwedjew.
21. März 2014, Staatstheater Karlsruhe (Deutsche Erstaufführung)

Bild: Oliver Schopf

"Die unbewusste Hand des Bösen liebt ihre eigene Unschuld." (Ellen Hinsey)

Ein Paar ist glücklich, den Ozean Richtung Westen zu überqueren, Deutschland im Rücken. Die Heimat hinter sich zu lassen ist einfacher als die Vergangenheit. Eine zufällige Begegnung, eine Verunsicherung, eine Gewissheit. Sie: "Du darfst nicht denken, dass ich beteiligt war an den Gräueltaten von Ausschwitz." Er: Meine Karriere als Diplomat ist nun im Eimer. Ein Schiff als Bühne ist vieles, auch ein Katalysator. Die Erinnerungen steigen zum Oberdeck hinauf.

Foto: Falk von Traubenberg

Das Ehepaar unterhält sich auf Deutsch. Die KZ-Insassen reden, jammern, schreien mal auf Polnisch, mal auf Russisch oder Französisch einmal wird auf Jiddisch gesungen. Der Genozid wurde polyglott vollzogen. Es sind Details wie diese, die sich einem einbrennen.

An Bord fordern jazzige Anklänge auf zum Tanz, in Ausschwitz spielte die Lagerkapelle "Willkommensmusik" bei der Einlieferung in die Hölle. Die irisierenden Klänge rutschen auf der schiefen Ebene der Erinnerung ins Verfluchte. Klänge kehren wieder, anders gefärbt. Walzer verlieren ihren Takt, atonale Steinbrüche werden hörbar; das Leben in seiner ganzen Breite zwischen Foxtrott und Todesmarsch.

Wenn der Text wichtig ist, schweigt die Musik.

Der Unterschied zwischen einem kitschigen Walzer und einer Chaconne von Bach ist der Tod. Statt einer einzigen Violine (wie von Bach geschrieben) erklingen bei Weinberg alle Geigen, Symbol für die verstärkte Wirkung einer nicht zu vernichtenden humanistischen Tradition. Der polnische Widerstandskämpfer Tadeusz erweist sich der deutschen Kultur mehr verpflichtet als die lautstarken Nationalisten; er verteidigt das Universelle gegen einen mörderischen Chauvinismus.

Hoffnung? Unschuld? Überwindung? Utopie? Immer wieder setzen Marimba, Xylophon, Vibraphon ein.

Der abstrakte Zugang von Holger Müller-Brandes (Regie) und Philipp Fürhofer (Bühnenbild) gelingt durchweg, so sehr, dass man sich sogar noch mehr Abstraktion wünscht. Das Gepäck etwa, von dem sich die KZ-Insassen trennen müssen und das als Memento mori eines untergegangenen "normalen" Lebens dient, ist vielleicht zu vielfältig bunt und die Madonna von Ausschwitz mit ihrem Neonlichtheiligenschein zu handfest?

Das Thema der Oper ist tatsächlich "bewusst verschwiegene Vergangenheit", wie der Kapellmeister Christoph Gedschold es sehr treffend bezeichnet. Ein weitverbreitetes Phänomen. Auch deswegen wird diese Oper bleiben. Die Schrecken der bolschewistischen und maoistischen Vergangenheit, der Militärdiktaturen weltweit – es muss noch so vieles zur Sprache kommen.

Dimitri Schostakowitsch hat Weinberg auf den Roman "Die Passagierin“ von Zofia Posmysz hingewiesen. Die Autorin kam ins KZ, weil sie Widerstandsliteratur gelesen hatte. Doch weder das Thema noch die Musik waren in der Sowjetunion erwünscht. Weinberg wurde marginalisiert, trotz der Protektion durch Schostakowitsch, der selbst mit einem Bein im ZK der KPdSU, mit dem anderen auf der Straße stand. Doch auch im Westen wurde "Die Passagierin" wie die vielen anderen Werke von Weinberg ignoriert, denn dort herrschte ein anderes Dogma: jenes der bedingungslosen Avantgarde.

Foto: Falk von Traubenberg

Trotz des enormen ästhetischen Gelingens dieser Produktion stellt sich im Nachklang nicht die erwartete Erschütterung ein, sondern eher eine Beglückung, dass diesem Thema mit Kunst doch beizukommen ist. Das hat mich verunsichert, bis hin zum schlechten Gewissen. Um mehr als 40 Jahre hat sich die Rezeption dieser gegen 1968 komponierten Oper verzögert. Ende der sechziger Jahre, nach dem Ausschwitz-Prozess, als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Hinwendung zur Vergangenheit, bei der viele unangenehme Fragen innerhalb einzelner Familien wie auch im öffentlichen Diskurs gestellt wurden, hätte dieses Meisterwerk eine wichtige Rolle spielen, wohl eine größere Wirkung entfalten können als heute, da diese Vergangenheit zwar nicht "bewältigt", wie das furchtbare deutsche Wort behauptet, aber doch bis in viele Seitenstränge hinein ausgeleuchtet ist.

Höhepunkt: Bronkas Gebet (tiefer Alt): "Und dass Du unsere Peiniger strafst, oh Herr, bestrafst, die uns quälen."

Coda: Karlsruhe war einst Residenzstadt, dann die Landeshauptstadt Badens. Das ist jener Teil Deutschlands, in dem sich das Wetter am häufigsten sonnig gebärdet. Vielleicht gehen deshalb die Straßen in dieser zu Barockzeiten ordentlich geplanten Stadt wie Strahlen vom zentralen Schloss ab. Während der Revolution von 1848/49 wurde der Großherzog kurzzeitig vertrieben. 1863 wurde das landesweit erste Verwaltungsgericht gegründet. Heute tagt hier mit dem Bundesverfassungsgericht eine Institution, die in letzter Zeit das Grundgesetz öfters gegen blinde Übergriffe der Legislative verteidigen musste. All das ist im Badischen Staatstheater zu spüren: der durch und durch demokratische Bau (hervorragende Akustik und gute Sicht auch von den günstigeren Platzen aus), das anspruchsvolle Programm mit vielen Premieren und der Reihe "Politische Oper", ein Publikum, das zwar zuerst skeptisch reagiere, wie der bemerkenswerte Chefdramaturg Bernd Feuchtner erzählt, dann aber Geschmack an Qualität finde (das Haus war fast voll, das Publikum begeistert) – alles in allem ein kleines Wunder. Was die Oper betrifft, gibt es in Deutschland keine Provinz. (Ilija Trojanow, derStandard.at, 28.3.2014)