Wien - Dass nicht alles, was im TV-"Tatort" so passiert, auch real ist, musste Günter F. am 2. Oktober feststellen. "Ich habe das gemacht, weil man es in Filmen auch immer so sieht. Ein Schnitt, und dann ist es ausgestanden. Aber das war nicht so. Das war überhaupt nicht so."

Seine 73-jährige Mutter Josefina starb nicht rasch und friedlich, als er versuchte, ihr mit einem Küchenmesser im Schlaf die Kehle durchzuschneiden. Im Gegenteil: Er stach im Endeffekt insgesamt 20-mal auf die Pensionistin ein, ehe sie starb. Nun sitzt er mit einer Mordanklage vor dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Friedrich Forsthuber.

F. ist 50 Jahre alt, hat Betriebswirtschaft studiert, spricht ruhig, artikuliert und bekennt sich schuldig. "Getragen war das Ganze von der Idee, es kurz und schmerzlos zu machen", versucht er dem Gericht zu erklären. Und überhaupt sei es eine altruistische Tat gewesen. Er wollte sich nämlich umbringen. "Und ich habe mir gedacht, was ist dann mit Mutti, wenn ich nicht mehr da bin? Sie wäre wohl in ein Heim gekommen und dort vereinsamt in einem Dämmerzustand gewesen. Das wollte ich ihr ersparen."

Asthma und Oberkörperschmerzen

Forsthuber versucht zu eruieren, warum sich F. das Leben nehmen wollte. Zwei Motive hört er: finanzielle und gesundheitliche Probleme. Der Wertpapierhandel als Selbstständiger habe nichts mehr abgeworfen, er litt an Asthma und immer wieder an Oberkörperschmerzen, für die die Ärzte keine Erklärung fanden, die ihm das Arbeiten aber unmöglich machten, sagt er. Warum er nicht zumindest eine von drei Mietwohnungen aufgab, um die finanzielle Situation zu entspannen, kann er Forsthuber nicht wirklich erklären.

Nach dem Tod des Vaters kümmerte er sich ab 2010 um die ebenfalls an Asthma leidende und psychisch kranke Mutter. "Ich bin täglich zu Mittag zur Mutti gegangen, am Nachmittag habe ich eingekauft, gewaschen, geputzt." Insgesamt viermal organisierte er ein Probewohnen in Seniorenheimen. "Nach ein bis zwei Wochen hat sich die Mutti dann immer zurückgezogen, wollte nur noch auf dem Zimmer essen und nicht mehr im Speisesaal."

Anfang 2012 stellte F. sich selbst eine Frage: "Warum soll ich leben? Wenn ich nicht mehr arbeiten kann, wird es nicht mehr gehen." Einen Zukunftsplan hatte er dennoch: "Es sollte noch ein schönes Jahr für Mutti und mich werden, das auch gut finanziert ist. Das wäre Ostern 2013 zu Ende gewesen." Ostern kam und ging ohne Mord und Selbstmord. "Ich war zu schwach und habe es von einem Monat zum nächsten aufgeschoben." Ausweg sah er keinen: "Ich war einfach mürbe. Ich finde keine anderen Worte."

Briefe an Polizei und Cousine

Im August wurde der Plan konkreter. F. schrieb zwei Abschiedsbriefe. Einen an die Polizei, den anderen an seine Cousine, die einzige Verwandte, zu der er etwas engeren Kontakt hatte. "Der Sinn war, ihr möglichst geordnete Verhältnisse zu hinterlassen." So findet sich in dem Schreiben nicht nur der Rechtfertigungssatz "Ich glaube nicht, dass es den Lieben Gott freut, wenn die Mutti dahinvegetiert", sondern auch eine penible Auflistung aller möglicherweise noch brauchbaren Einrichtungsgegenstände.

Warum es schließlich im Oktober ernst wurde, kann er nicht konkret sagen. Er war in der Wohnung der Mutter, "wir haben gegessen, geplaudert, gelesen. Dann habe ich gewartet, bis sie eingeschlafen ist", schildert der Angeklagte. Als das der Fall war, fuhr er noch zum Postamt und warf die Abschiedsbriefe ein.

Zurück bei der Mutter nahm er das Küchenmesser aus seinem Kofferraum. "Warum hatten Sie das dort liegen?", wundert sich der Vorsitzende. "Aus Sicherheitsgründen, falls ich einmal angegriffen werde."

Vergebliche Selbstmordversuche

Nachdem der Mord doch nicht kurz und schmerzlos verlaufen ist, "habe ich einen großen Fehler gemacht. Ich habe Alkohol getrunken", schildert F. weiter. Denn statt ihn zu betäuben, hat ihn der scheinbar gehemmt: Er setzte sich in die Badewanne und schaffte es trotz mehrerer Versuche nicht mehr, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Als die brieflich alarmierte Polizei kam, ließ er sich widerstandslos festnehmen.

Die Berufsrichter stellen ihren Laienkollegen nur eine Frage: War es Mord oder nicht? Im Falle eines Geständigen ist die eigentlich nicht allzu schwer zu beantworten. Zur großen Verwunderung plädiert Verteidiger Bernhard Umfahrer am Ende dennoch de facto auf einen Freispruch.

Drei Gründe führt er an: Der psychiatrische Sachverständige Karl Dantendorfer, der den Angeklagten für zurechnungsfähig erklärt, ihm aber auch eine schizoide Persönlichkeitsstörung attestiert hat, habe schlecht gearbeitet. Eine Zurechnungsunfähigkeit zum Tatzeitpunkt sei sehr wohl möglich. Weiters habe ihn die Staatsanwaltschaft zu spät von der Bestellung des Gutachters verständigt. 

"Er wollte nichts Böses machen"

Und überhaupt, appelliert Umfahrer an die Geschworenen: "Er wollte nichts Böses machen - er wollte Leid vermeiden. Die strengste Strafe, nämlich seine Mutter getötet zu haben, hat er schon erhalten. Also stellen Sie sich bitte die Frage, ob er auch noch eine formelle Strafe braucht."

Die Laienrichter sind, nicht rechtskräftig, dieser Meinung. Einstimmig. Und haben dennoch Mitleid mit ihm. Das Gericht macht von seinem außerordentlichen Milderungsrecht Gebrauch und verurteilt ihn nur zu acht Jahren Haft, obwohl Mord mit zehn Jahren Mindeststrafe bedroht ist.

"Wir sind in diesem Fall der Meinung, dass die Milderungsgründe - Unbescholtenheit, Geständnis, eine erhebliche Persönlichkeitsstörung sowie die Belastung durch die Erkrankung der Mutter und die finanziellen Probleme - den Erschwerungsgrund, dass 20-mal zugestochen wurde, deutlich überwiegen", begründet Forsthuber die Entscheidung. (Michael Möseneder, derStandard.at, 26.3.2014)