Matthew ist ein witziger Kerl. Er führt mich und andere Fußball-Fans durch die Stamford Bridge, die Heimstätte des Chelsea FC, und schiebt eine Wuchtel nach der anderen. "Are there any Arsenal fans around?", fragt Matthew in die Runde. Die Stille bricht er selbst: "Schade, bei uns könnten sie Pokale aus der Nähe sehen." Gelächter, der Schmäh kommt gut an. Matthew bringt ihn wohl nicht zum ersten Mal. Nun will er es aber genauer wissen: "What team do you support?" Hinten meldet sich ein Fan von Atletico Madrid, vorne einer von Steaua Bukarest. Matthew nickt anerkennend. Als er bereits das nächste Thema anschneiden will, ruft eine Frau neben mir lauthals: "Austria Vienna!" Matthew dreht sich fragend in ihre Richtung: "Sorry?" Vielleicht hat er aber auch "I'm sorry" gesagt. Ich konnte es nicht genau hören.

Im Vereinsmuseum des Chelsea FC hängt jedenfalls ein Wimpel der Wiener Austria. 1994 schieden die Violetten gegen die Londoner im Europacup der Cupsieger aufgrund der Auswärtstorregel aus, im Hinspiel erkämpften sie mit zehn Mann ein 0:0 an der Stamford Bridge. Ein Remis bei Chelsea hat durchaus Wert, normalerweise gewinnen die Blues ihre Heimspiele. "Was kannst Du hier riechen?", fragt mich Matthew in der Gästekabine. Meine feine Nase erschnuppert einen nicht unangenehmen Mix aus Profischweiß und Massageöl. Er sieht mir in die Augen und löst das Rätsel flüsternd auf: "It´s the smell of defeat".

 

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An der Umkleide der Auswärtsmannschaft sind die Millionen von Öl-Milliardär und Mäzen Roman Abramowitsch offenbar vorbeigeflossen. Die Massagetische sind museumsreif, die Kästchen eignen sich eher für Hobbits, wenn überhaupt. Ein mannshoher Spiegel wurde laut Matthew nur für etwaige Besuche von Cristiano Ronaldo angebracht. Der Gegenpart befindet sich einen Handschlag entfernt: in der großzügigen Kabine der Chelsea-Spieler wurde alles mit edlen Hölzern getäfelt. So sieht also psychologische Kriegsführung aus. Möglicherweise ist das auch britischer Humor der subtileren Art.

Meine Anwesenheit an der Stamford Bridge hat ein Ziel: das Match gegen Arsenal, mein langersehntes Debüt in der Premier League und dann gleich ein Derby. In mir schlummert ein kleiner Gunner. Dennis Bergkamp, Freddie Ljungberg, Patrick Vieira, Robert Pires, Thierry Henry - das waren meine Jungs. Und Nick Hornbys Fan-Bibel "Fever Pitch" ist auch mir nicht entgangen. In Bangkok erstand ich einst ein schlecht gefälschtes Arsenal-Dress (Sponsor: Dreamcast!) und trug es mit Stolz durch Wien. Aber alte Liebe rostet doch. Keine Spur von schlechtem Gewissen, als ich mit einem mehrtägigen Aufenthalt bei Chelsea beschenkt werde.

Ich setze alles auf eine Karte: ein Chelsea-Shirt für mich, Chelsea-Zuckerl (PEZ!) für meine Kinder und ein Chelsea-Magnet für meinen Kühlschrank. Ultimativer Höhepunkt eines jeden Gloryhunters: ein Foto mit den Maskottchen Stamford und Bridget. Leicht betäubt vom Singha-Bier (Vereinssponsor!) lasse ich mich auch dazu hinreißen. Aber die Stimmen in meinem Kopf werden lauter: "Come on, Arsenal! Come on, Arsenal!" Ich sehe erste Fans in Rot eintrudeln, instinktiv möchte ich mich anschließen.

 

 

Aber immer mit der Ruhe, es gibt ja auch gute Gründe, Chelsea zu mögen. Allen voran das Stadion. Die Stamford Bridge steht mitten in dicht besiedeltem Gebiet an der Fulham Road. Auf der einen Seite ein Friedhof, auf der anderen ein Wohnheim für Veteranen. Wer hier ein Bier außerhalb des Stadions trinken möchte, muss nicht zwanzig Minuten mit dem Auto fahren, sondern nur die Straßenseite wechseln. Ein angenehmer Kontrast zu den im Niemandsland errichteten Fußball-Arenen der Neuzeit. Kaum zu glauben, dass in dieser Gegend am Matchtag über 40.000 Fans problemlos zu- und abwandern können.

Aber es funktioniert. Kein Stau, keine Wartezeiten, kein Ärger. Gepäckstücke werden schon vor dem Eingang dezent von Hunden beschnüffelt, Sprengstoff ist nicht willkommen. Die Kontrollen lasse ich hinter mir und lande auf der Gastromeile in den Stadion-Katakomben. Das vielfältige Catering ist ein kulinarischer Genuss, feinste Bangers, also englische Würsteln, werden kredenzt. Und abermals kein Anstellen. Ich bin perplex. Als langjähriger Besucher österreichischer Stadien hielt ich einen derart reibungslosen Ablauf bisher für eine Unmöglichkeit, ich wurde quasi Zeuge eines logistischen Wunders.

Um 12.45 Uhr geht es los. Ich erwarte mir einen Kampf auf Biegen und Brechen. Ich bekomme Einbahnfußball. "Come on Arsenal! Come on Arsenal!", geistert es auch während des Spiels durch meinen Kopf. Jetzt hat Fernando Torres den Ball, wo läuft der bloß hin, ist der blind? Ach so, Stanglpass auf Oscar und 4:0 für Chelsea nach 42 Minuten. Mit jedem Gegentor rückt mir Arsenal näher. Die hängenden Köpfe, die Hände in den Hüften - vermutlich kann ich mich als Österreicher mit dieser Körpersprache im Fußball besser identifizieren. Tomáš Rosický spielt den Ball direkt ins Out. Das kommt mir bekannt vor, damit kann ich was anfangen.

 

 

"Jede Niederlage hinterlässt eine Narbe am Herzen", hatte Trainer Arsene Wenger vor seinem 1000. Pflichtspiel für Arsenal zu englischen Medien gesagt. Das 0:6 an diesem Tag, die zweithöchste Niederlage in der Vereinsgeschichte der Gunners, muss ihm das Organ in kleine Teile zerschnitten haben. Immerhin, die Chelsea-Fans feierten den Franzosen gebührend: "Arsene Wenger, we want you to stay!" Bei jedem Angriff der Hausherren, also alle 30 Sekunden, riss es das euphorisierte Publikum von den Sesseln. Eigentlich ist Stehen verboten, aber zum Sitzen blieb dem Publikum einfach keine Zeit.

Der Support der Fans ist spielorientiert und demokratisch, Vorsänger und Megaphon sind nicht gefragt - immer und überall werden sich rasch verbreitende Chöre angestimmt. Besungen wird dabei vorwiegend Jose Mourinho, der Trainer ist bei Chelsea eindeutig der Star, an der Stamford Bridge kann sich das Ego des Portugiesen voll entfalten. Zwischendurch werden Roman Abramowitsch Gesänge gewidmet, der Oligarch muss schließlich bei Laune gehalten werden. Die Fans von Arsenal erwachen ihrerseits erst wieder kurz vor Spielende aus der Schockstarre. Manche haben das Stadion bereits vor Schlusspfiff verlassen. Vielleicht sind sie ja ins Chelsea-Museum abgebogen. Pokale schauen oder so. (Philip Bauer, derStandard.at, 25.3.2014)