Ihsan Yilmaz: "Solange das Thema Korruption nicht mit Wirtschaftsproblemen verbunden ist, kümmert es die Leute nicht allzu sehr."

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STANDARD: Wer stellt alle diese Telefongespräche ins Internet?

Yilmaz: Ich habe keine Beweise, aber es scheint mir falsch, mit dem Finger auf die Hizmet-Bewegung zu zeigen ("hizmet" - türkisch für "Dienst", Anm.). Fethullah Gülens Gespräche sind auch publik gemacht worden. Offensichtlich gibt es Leute im türkischen Staat, die gegen das Problem der Korruption ankämpfen. Diese Personen gibt es auch im türkischen Geheimdienst MIT, einst Hochburg des kemalistischen Staates. Dort gibt es keine Hizmet-Anhänger, soviel wir wissen.

Der MIT wusste von den Korruptionsvorwürfen und dem iranischen Netzwerk, in das die vier früheren Minister des Inneren, der Wirtschaft, der Stadtplanung und der EU-Angelegenheiten verstrickt sein sollen. Der Geheimdienst hatte Regierungschef Erdogan im April 2013 darüber in Kenntnis gesetzt, neun Monate bevor die Affäre am 17. Dezember in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Aus meiner Sicht steht also eine Mischung von Leuten hinter den Telefongesprächen: Nationalisten, Liberale, Sozialdemokraten und vielleicht zehn Prozent Hizmet-Anhänger.

STANDARD: Der Premier behauptet, die Gülen-Bewegung habe einen Staat im Staat errichtet.

Yilmaz: Warum erhob er solche Behauptungen nicht, bevor die Korruptionsaffäre am 17. Dezember bekannt wurde? Erdogan hat ja vorher mit den angeblichen Hizmet-Sympathisanten in der Polizei zusammengearbeitet. Er war zufrieden mit der Verhaftung von Armeeoffizieren und Kurden, die verdächtigt wurden, Mitglieder der KCK zu sein (gilt als politischer Arm der PKK, Anm.). Mittlerweile wurden 8000 Polizeibeamte und 400 Staatsanwälte versetzt, manche fünfmal in zwei Monaten; das zeigt, wie unsicher die Regierung mit dieser Säuberung ist. Das Kriterium scheint zu sein, ob ein Beamter ehrlich ist und nicht bestochen werden konnte.

STANDARD: Erdogan und seine AKP galten einmal als treibende Kraft pro-europäischer Reformen. Was ist passiert?

Yilmaz: Erdogan und einige Mitglieder seines engeren Kreises haben die EU-Kandidatur als Instrument gegen das Militär und das kemalistische Establishment benutzt. Sobald sie die Oberhand gewonnen hatten, haben sie in aller Ruhe ihre eigene Macht gefestigt.

Mit dem Referendum über die Verfassungsänderungen 2010 sind sie ihre alte Furcht losgeworden, dass das Höchstgericht die AKP verbieten würde, wie es in der Vergangenheit mit so vielen anderen Parteien geschehen war. Und mit den Gerichtsurteilen in den Putschprozessen (Ergenekon und Operation "Vorschlaghammer", Anm.) haben sie die Macht der Armee beschnitten. Dann kamen die Parlamentswahlen 2011, wo die AKP zum dritten Mal in Folge gewann und sogar mit fast 50 Prozent. Diese drei Ereignisse ließen Erdogan glauben, dass er einfach unbesiegbar sei.

Von da an begann der Kreis um Erdogan, gegen die EU zu reden. Gegen Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, für die Schanghai-Organisation (von Russland und China angeführte Sicherheitskooperation, Anm.) als bessere Option. Sie brauchen die EU nicht mehr.

STANDARD: Wie wirken sich die Korruptionsaffäre und die Telefonate auf die Wahl aus?

Yilmaz: Es wird eine Wirkung haben, aber keine große. Nicht weniger als elf Millionen Türken besitzen jetzt eine so genannte grüne Karte. Diese gibt ihnen das Recht auf eine ganze Reihe finanzieller Unterstützungen durch den Staat. Solange das Thema Korruption nicht mit Wirtschaftsproblemen verbunden ist, kümmert es die Leute nicht allzu sehr. Noch haben wir keine Wirtschaftskrise. Bis zu den Präsidentenwahlen im August mag sich das ändern.

STANDARD: Diese Korruptionsaffäre betrifft einen Regierungschef und seine Gefolgsleute, die sich als religiös und moralischen Werten verpflichtet darstellen. Ist die Idee eines politischen Islam in der Türkei nun gescheitert?

Yilmaz: Definitiv. Erdogan war immer schon ein politischer Islamist. Er hat seine Absichten nur bis vor kurzem noch verborgen, bevor er anfing, offen über die Erziehung einer "religiösen Generation" zu sprechen. Hier geht es nicht um Islam und Demokratie und um die Frage, ob beide zusammenpassen. Sie können. Wir sprechen hier über einen Mann, der autoritär geworden ist. (Markus Bernath, DER STANDARD, 26.3.2014)