Zotteliger Gegner: Sebastian Stan als Winter Soldier.

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Wien – Wer länger als ein halbes Jahrhundert im ewigen Eis festgefroren war, braucht ein Notizbüchlein. Denn so wichtig kann die Geschichte der Menschheit seit Ende des Zweiten Weltkriegs gar nicht sein, dass sie nicht völlig altmodisch mit Papier und Bleistift nachgeholt werden könnte. Auf diese Weise erfährt man zu Beginn dieses Films jedenfalls, was Steve Jobs mit Disco und Thai Food gemeinsam hat: Man darf sie versäumt haben.

Am Ende seines ersten großen Leinwandabenteuers Captain America: The First Avenger starrte der junge Mann, eben aus seinem Kälteschlaf erwacht, noch entgeistert auf den New Yorker Times Square. Im Kampf gegen eine Geheimorganisation der Nazis ("Heil Hydra!") rettete er als lebender Schutzschild zwar die Vereinigten Staaten und somit die freie Welt, blieb jedoch für Jahrzehnte in der Arktis verschollen.

Nun wärmt er sich zu Beginn des Fortsetzungsstücks Captain America: The Winter Soldier beim Joggen am Washington Monument auf, arbeitet für den Geheimdienst S.H.I.E.L.D. und rückt in dessen Auftrag gleich einmal zu einer Geiselbefreiung in den Indischen Ozean aus.

Doch bei allem Einsatz für die gute Sache – im Vergleich zu seinen Kollegen hatte Captain America schon immer einen schweren Stand. Seit seiner Geburt, als er 1941 zum ersten Mal von Marvel-Comics in den Krieg gegen Hitler geschickt wurde, blieb der All-American-Hero einer der unscheinbarsten Superhelden. Dem Soldaten mit Scheitel und Schutzwaffe fehlten schon immer Witz und Charisma oder wenigstens ein zweckdienliches Unfalltrauma und eine interessante dunkle Seite. Seine Attraktivität als Kinoheld hängt deshalb umso stärker von seinen jeweiligen Gegenspielern und Gefährten ab, deren Waffen oder Weltherrschaftsfantasien ihn erst aus der Defensive locken.

Auch die Aufgabe, die The Winter Soldier für den patriotischsten aller Superhelden bereithält, lässt diesen zunächst in Deckung gehen: Die eigene Organisation steht im Verdacht, von einer noch geheimeren infiltriert worden zu sein, sodass Captain America (Chris Evans), seine Kommilitonin Black Widow (Scarlett Johansson) und seine beiden Vorgesetzten (Samuel L. Jackson und Robert Redford) einander die Vertrauensfrage stellen. Bei der Suche nach den Maulwürfen greifen die TV-Regisseure Joe und Anthony Russo in ihrem ersten Blockbuster auf bewährte Genremuster zurück: Verdacht und Paranoia werden so lange durchmischt, bis sie tatsächlich ununterscheidbar werden.

Aufschlussreicher als diese recht vordergründige Kritik an einer außer Kontrolle geratenen Schutzmacht und spannender als die obligatorischen Kampfszenen mit diversen Straßen- und Luftfahrzeugen ist aber ohnehin der Versuch, einem Superhelden ohne Lebensgeschichte eine solche einzuschreiben. Sei es ein heimlicher Besuch im eigens für ihn errichteten Museum, sei es, dass er seine große Liebe noch einmal wiedersieht oder dass er sich selbst als schwächlichen Rekruten beim Training zusieht: Wie sein Held wird auch dieser Film nicht müde, die Erinnerung daran wachzurufen, wofür es sich früher zu kämpfen gelohnt hat.

Kein Wunder also, dass der Mann ohne Vergangenheit auch für den Showdown mit seinem neuen Kontrahenten auf seine eigenen musealen Artefakte angewiesen ist. Der mittlerweile lächerlich wirkende Superhelden-Anzug von damals mag für den modernen Kampf zum Vergessen sein, als Erinnerungsstück ist er jedoch die stärkste Waffe. "Remember who you are", schleudert Captain America denn auch dem Wintersoldaten, der seine wahre Identität für lange Zeit hinter zotteligen Haaren und Mundschutz verbirgt, entgegen. Manchen Gegner trifft die Vergangenheit eben härter als ein bemalter Rundschild. (Michael Pekler, DER STANDARD, 26.3.2014)