Der schwer abgestrafte Staatschef François Hollande steckt tief im Dilemma.
"Bestürzt und beunruhigt": So reagierte sogar die südfranzösische Zeitung Midi Libre, die es eigentlich ahnen musste. Sie hatte den Vormarsch des Front National (FN) in Kleinstädten wie Fréjus, Perpignan, Saint-Gilles, Béziers oder Avignon seit Monaten beschrieben, aber trotzdem nicht erwartet, dass der FN all diese Rathäuser wirklich erobern könnte. Die Wähler, so schreibt Midi Libre dramatisch, hätten "das Gespenst der extremen Rechten ausgegraben".
Dabei wirkt der FN-Erfolg auf den ersten Blick sehr beschränkt: Die Partei von Marine Le Pen konnte nur in knapp 600 größeren Orten eigene Wahllisten präsentieren - bei insgesamt mehr als 36.000 Gemeinden. Die Rechtspopulisten konzentrierten sich allerdings bewusst auf "gewinnbare" Städte. Und dort erzielten ihre Kandidaten im ersten Wahlgang am Sonntag zwischen 25 und 45 Prozent Stimmen.
Im nordfranzösischen Kohlerevier Hénin-Beaumont wurde der FN-Kandidat Steeve Briois (41) mit 50,2 Prozent sogar schon im ersten Wahlgang gewählt. Der früher als Mitläufer Le Pens belächelte, diskret homosexuelle FN-Generalsekretär verkörpert eine neue Generation von Parteikadern, denen die Wähler auch Ämter anzuvertrauen bereit sind.
Das ist das eigentlich Bemerkenswerte. Die Wähler benützen das Kürzel FN nicht mehr nur, um Frust abzulassen oder den etablierten Parteien, UMP (bürgerlich) oder PS (Sozialisten), Angst einzujagen: Sie sind auch gewillt, FN-Vertreter an die Macht zu lassen. Dabei sind die betroffenen Städte keine Ausnahmefälle; es sind, wie etwa die reiche Papst- und Theaterstadt Avignon in der Provence oder das industriell heruntergekommene Hénin-Beaumont im Norden, typisch französische Orte, die von Le Pen zu Laborstätten ihrer lokalen Verwurzelung erklärt wurden. Diese Erfolge sind überall wiederholbar. Und damit wird das Undenkbare denkbar - ein Erfolg auf nationaler Ebene.
"Professioneller geworden"
Die wenigen bisherigen Kommunalexperimente des FN, etwa 1995 in Toulon oder Orange, endeten meist kläglich mit Affären oder Parteiaustritten. "Heute hat sich das geändert", meint FN-Vize Florian Philippot, der in der lothringischen Bergbaustadt Forbach auf Anhieb 36 Prozent machte und bei der Stichwahl gute Chancen hat. "Heute ist der Front National viel besser verwurzelt und zudem professioneller." Die "Lepenisten" sind mit diesen Wahlen auf jeden Fall zur "dritten politischen Kraft" Frankreichs geworden, wie Ouest-France stellvertretend für viele Blätter schreibt.
Getroffen ist als Erster François Hollande. Ein Berater des Staatschefs nahm, wie Pariser Medien berichten, am Sonntagabend sein Handy mit dem Spruch ab: "Hallo, hier ist die Titanic." Wie blind gegenüber der Stimmung im Land, flog der sozialistische Präsident am Sonntag im Präsidentenjet von Paris ins Zentralmassiv, um in seiner Gemeinde Tulle den Stimmzettel einzuwerfen - Kostenpunkt 9200 Euro, ein weiteres gefundenes Fressen für den FN.
Zurück im Élysée-Palast, muss sich Hollande genau überlegen, wie er auf dieses "Beben" (so Le Monde) reagieren will. Bestätigt der zweite Wahlgang den ersten, wird er nicht um eine Regierungsumbildung herumkommen.
Was aber, wenn der Front National danach erneut absahnt und bei den Europawahlen im Mai zur stärksten Partei im Land aufsteigt, wie das die Umfrageinstitute vorhersagen? Dann hätte Hollande sein Pulver bereits verschossen. Einen Kurswechsel - hin zu einer wirtschaftsfreundlichen, das heißt jobschaffenden Politik - hat er bereits vollzogen. Bleibt ein Schwenk zurück nach links, wie das im Hollande-Lager viele verlangen. Das würde den heute sehr "sozial" auftretenden Front National zwar etwas neutralisieren, wirtschafts- und europapolitisch wäre die Signalwirkung aber verheerend. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 25.3.2014)