Eine tägliche Singstunde wäre eine Diskussion wert: Denn Musik vermittelt wertvolle Werkzeuge und viele positive Emotionen.

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"Sind wir fertig?", fragt Rafael liebevoll und streng zugleich. Schnell werden noch Jausenbehälter zugeklappt, Stifte weggelegt und kleine Stühle unter Tische geschoben. Dann aber stehen alle, den Blick nach vorne gerichtet, recken sie die Hände in die Höhe, atmen dabei tief ein, streifen sich die Nacken lang und atmen wieder aus. "Hand aufs Herz!", sagt der Chorleiter, macht es vor und fragt die Klasse: "Hat sich mein Herz beruhigt?" Einige nicken, dann surren die Kinder los, ganz leise zum Aufwärmen ihrer Stimmbänder, und klingen dabei wie kleine Gespenster.

Es ist Mittwoch, kurz nach neun in der Volksschule Wichtelgasse im 17. Bezirk. Die Faschingsdekoration hängt noch tief über den 21 Köpfen der dritten Klasse, und der 38-jährige Rafael Neira dirigiert seine bunte Gruppe und singt mit weit geöffneten Mund vor: "A-A-AAA - ja genau! Lasst den Ton zu mir kommen." Die Kinder singen, manche laut, andere verhalten, erst auf einem Bein, dann auf dem anderen und schließlich "Halleluja" in zwei Kanon-Gruppen. "Beyza, leg den Stift weg! Thomas, schau zu mir. Konzentration!", ruft der Chorleiter: "Am Freitag haben wir Konzert!"

"Kraftfutter für Kindergehirne"

Dass Musikerziehung und Persönlichkeitsentwicklung eng zusammenhängen, ist nicht mehr neu. Wissenschaftliche Erkenntnisse gibt es dazu viele. So ließ der deutsche Musikpädagoge Hans Günther Bastian im Jahr 2000 mit seinen Studien über Musik und ihre positive Wirkung auf Kinder aufhorchen, und auch der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther nennt Musik "Kraftfutter für Kindergehirne". Der Blick auf das Pisa-Musterland Finnland, wo Kindern schon früh Singen und das Spielen eines Musikinstruments beigebracht wird, wirft nur eine Frage auf: Wenn Musikpädagogik im Vorschul- und Schulalter so wichtig ist, warum legen wir nicht mehr Augenmerk darauf?

Gerald Wirth ist einer, der sich viel mit solchen Fragen beschäftigt hat und manchmal die Politik nicht versteht. Der Leiter der Wiener Sängerknaben hat nicht zuletzt durch seinen Beruf als Musik- und Chorpädagoge viele Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt und weiß: "Durch Musik lernen sich Kinder besser zu fokussieren. Sie werden vielleicht nicht unbedingt besser in der Schule, aber sie tun sich auf jeden Fall leichter, mit Schwierigkeiten umzugehen!" Kurzum: Musik vermittelt wertvolle Werkzeuge und viele positive Emotionen. Nicht nur die tägliche Turnstunde sollte eine Diskussion wert sein, sondern auch die tägliche Musikstunde: "Am idealsten wäre eine Kombination beider Disziplinen", sagt er.

Vorbild ist Venezuela

Weltweit geben viele Eltern eine Menge Geld für die musikalische Ausbildung ihrer Kinder aus. Wirths Motivation greift aber weiter. Ihn interessiert die Arbeit mit Kindern, die diesen Zugang zu Musik nicht haben. Deswegen hat der ehemalige Wiener Sängerknabe 2009 (gemeinsam mit Konzerthaus, Caritas und Stadt Wien) das Superar-Chor-Programm für Österreich gegründet. Vorbild sind Venezuela und seine El-Sistema-Chöre, wo Wirth selbst unterrichtet hat und in denen tausende Kinder beheimatet sind, die es aufgrund der sozialen Lage ihres Landes besonders schwer haben. Wirth weiß, dass es uns in Österreich im Vergleich dazu gutgeht: "Aber auch hier gibt es viele, die nicht Teil der Gesellschaft sind!" Musik und Singen bauen eine Brücke, ist er überzeugt. Die vorläufige Bilanz nach drei Jahren Superar: 700 Kinder, die singen und Musik machen, die sonst keine Chance dazu hätten. Am 7. März standen sie alle als Künstler auf der Bühne des Wiener Konzerthauses, sangen Volkslieder und Kanon und auch Schuberts An den Mond für das große Jahreskonzert. Und im Publikum saßen viele stolze Eltern, Menschen, die sonst vielleicht kein klassisches Konzert besuchen würden. Wichtige Integration passiert so ganz nebenbei.

Die Volksschule in der Wichtelgasse war eine von drei Volksschulen, die das Programm von Beginn mitgetragen haben. In der Klasse von Chorleiter Neira gibt es vielleicht drei bis vier Kinder ohne Migrationshintergrund, wie es immer heißt. Aber das ist nicht wichtig: Egal woher du kommst, jemand bist, der sonst im Unterricht stört oder es zu Hause schwer hat, hier geht es ums Singen. Zwei seiner Schüler sind schon von der Wichtelgasse zu den Sängerknaben in den Augarten gezogen. Einer, der Fußballer werden wollte, will jetzt Komponist werden.

Auf der Warteliste

Der studierte Konzertgitarrist unterrichtet seine Dritte, Woche für Woche, seit deren Volksschulbeginn vor zweieinhalb Jahren. Am Donnerstag werden die Einzelklassen zu einem großen Chor zusammengezogen. Geprobt wird im Turnsaal, einen Festsaal hat die Schule nicht. In Wien gibt es mittlerweile sieben Superar-Schulen, in ganz Österreich sind es zehn (zwei in Vorarlberg, eine in Graz). "Es hat sich herumgesprochen, dass das eine tolle Auswirkung auf die Kinder hat!", sagt Superar-Sprecherin Irena Klissenbauer, die 15 Schulen auf der Warteliste hat. Superar ist kein Projekt, sondern ein Programm, das in den Unterricht integriert wird. "Wir wollen die Kinder begleiten", erklärt Wirth, mit den frisch installierten Mittelstufen-Chören am liebsten bis ins Erwachsenenalter.

Ein Ansatz, der im Trend liegt. "Wir wollen Nachhaltigkeit", sagt auch Swea Hieltscher, Leiterin der Wiener Musikschule, und erklärt, dass auch ihre Musikpädagogen jede Woche bei den Schülern sind, von der ersten bis zur vierten Klasse. Mit 11.000 Schülern (in 14.500 Fächerbelegungen) ist die Musikschule der größte Anbieter in Sachen Musikerziehung. Dass der Betrieb mitten in einem Reformprozess steckt und wenig verstaubt ist, symbolisiert das frisch renovierte Haupthaus in der Skodagasse im 8. Bezirk mit seinen lichtdurchfluteten Musik- und Proberäumen. Hieltscher, die vor 13 Jahren für die Schulleitung von Berlin nach Wien gezogen ist, nennt das eine "positive Entwicklung". Kein Wunder: Sie hat die notwendigen Reformen mit angeschoben. Eltern, erklärt sie, sind mehr und mehr berufstätig, das Ganztagesangebot der Schulen nimmt zu. Eltern können die Kids nachmittags kaum herumkutschieren. Wenn also die Kinder nicht mehr in die Musikschulen kommen, dann gibt es nur eine Lösung: "Die Musikschule kommt zu den Kindern", sagt Hieltscher resolut. Ihre Vision: Musik und Singen in Schulmodellen so zu integrieren, dass um 17 Uhr, wenn die Kinder nach Hause kommen, alles erledigt ist - nicht nur die Hausübung, sondern auch die Musikausbildung.

Extrem große Nachfrage

Damit diese Vision Wirklichkeit wird, hat in den vergangenen Jahren eine starke Vernetzung stattgefunden. Zum einen mit den Universitäten, weil es hier auch um die Schaffung neuer Berufsfelder geht. Dann auch mit privaten Anbietern, die den steigenden Bedarf an musikpädagogischen Angeboten abdecken helfen sollen - z. B. starten die Eltern-Kind-Gruppen für eine frühmusikalische Erziehung für Kinder mit 18 Monaten, und die Nachfrage ist extrem groß. Und nicht zuletzt mit dem Wiener Stadtschulrat, mit dem Module geschaffen wurden, die Musik in den Vormittagsunterricht in der Schule integrieren. Hieltscher ist stolz darauf, was geschafft wurde: 150 von 260 Wiener Volksschulen haben ein musikalisches Angebot, 17 davon sind sogenannte Elemu (elementares Musizieren)-Schulen und das, was man als "Renner" bezeichnet.

"Wie singen wir?", fragt Susanne den Sesselkreis. "Piano oder forte?" "Forte!", rufen ein paar. Gerade erst sind 25 Erstklässler in Zweierreihen in den Musikraum für ihre Elemu-Stunde einmarschiert, schon singen sie ihr Begrüßungslied, begleitet von einer eigenen Korrepetitorin am Klavier. Während draußen am Herderplatz im 11. Bezirk schon die Bäume blühen, hüpfen drinnen die Kleinen wie Küken am Ende jeder Strophe begeistert in die Luft. "Wir machen viele kleine Schritte" , singen sie, und das stimmt. Jede Woche singen und bewegen sie sich, lernen, dass es halbe, Viertel- und Achtelnoten gibt, und sind zusammen ein eigenes kleines Orchester, das die Musikpädagogin jetzt zusammenstellt. Triangeln, Trommeln und Bassstäbe werden aus den Regalen geholt und an die Kleinen verteilt. Was beim Zuschauen und Zuhören so einfach aussieht, das hat Susanne Novotny 20 Jahre geprobt. Seit acht Jahren arbeitet sie im Herderpark, jetzt mit dem Elemu-Programm. Zwei Stunden verbringen die Kinder mit drei Lehrerinnen im Musikraum. Neben den Musikpädagoginnen ist auch die Klassenlehrerin Gertrude Wallner dabei. Auch sie muss bei Elemu mitmachen, geht es nach den Vorstellungen von Swea Hieltscher, der Leiterin der Wiener Musikschulen, noch bis zum Ende der vierten Volksschulklasse.

Jetzt dürfen die Kinder auf die Bühne. Bühne? Selbstverständlich klettern Rafaela, Omar & Co auf ihre Sessel, stehen gleich mit mehr Körperspannung da und übertönen den Raum. Wallner ist stolz, sie kann dabei zuschauen, wie positiv sich das regelmäßige Musizieren auf ihre Schützlinge auswirkt: "Sie kriegen mehr Selbstbewusstsein, und die Auffassungsgabe steigt." Und nicht zuletzt: Den Kindern macht es einen Riesenspaß. (Mia Eidlhuber, DER STANDARD, 28.3.2014)