Sehr geehrter Herr Präsident! Wir sind jüdische Bürger der Ukraine: Geschäftsleute, Manager, religiöse und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Wissenschafter und Forscher, Künstler und Musiker. Wir schreiben Ihnen im Namen der multinationalen Bevölkerung der Ukraine, der ukrainischen Minderheiten und der jüdischen Gemeinschaft des Landes.

Sie haben behauptet, dass Russland die Rechte der russischsprechenden Bürger auf der Krim und in der gesamten Ukraine schützen möchte - und, dass diese Rechte von der gegenwärtigen Regierung missachtet wurden. Historisch betrachtet, sind die ukrainischen Juden überwiegend russischsprachig. Deshalb hat unsere Meinung über die gegenwärtigen Entwicklungen nicht weniger Gewicht als jene derjenigen, die Sie beraten und informieren.

Wir glauben nicht, dass es einfach ist, Sie hinters Licht zu führen. Sie wählen bewusst Lügen und Verleumdungen aus der enormen Menge an Informationen über die Ukraine. Und Sie wissen sehr genau, dass Wiktor Janukowitschs Aussagen nach dem jüngst unterschriebenen Vertrag - "Kiew ist voller bewaffneter Personen, die begonnen haben, Gebäude, Kirchen und Andachtsräume zu verwüsten. Unschuldige beginnen zu leiden. Menschen wurden auf offener Straße ausgeraubt und erschossen ..." - vom ersten bis zum letzten Wort glatte Lügen sind.

Die russischsprachigen Bürger der Ukraine wurden nicht gedemütigt oder diskriminiert, ihre Bürgerrechte wurden nicht beschnitten. Die Abschweifungen über "gewaltsame Ukrainisierung" oder "Verbote der russischen Sprache" in den russischen Medien spielen sich bloß in den Köpfen jener ab, die das erfunden haben. Ihre feste Überzeugung, dass der Antisemitismus in der Ukraine wachse, entspricht ebenfalls nicht den Tatsachen. Es scheint, als hätten Sie die Ukraine mit Russland verwechselt, wo jüdische Organisationen im vergangenen Jahr einen Zuwachs antisemitischer Tendenzen festgestellt haben.

Unterschiedliche Meinungen

In diesen Tagen, nachdem die Ukraine eine schwere politische Krise überlebt hat, sind viele von uns auf unterschiedlichen Seiten der Barrikaden gelandet. Die Juden der Ukraine, und alle anderen ihrer ethnischen Gruppen, sind nicht absolut geeint in ihren Ansichten darüber, was in dem Land passiert. Aber wir leben in einem demokratischen Land, und wir können uns unterschiedliche Meinungen leisten.

Man hat versucht (und tut es immer noch), uns zu verängstigen. "Bandera-Gefolgsleute" (nach dem ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera, Anm.) und "Faschisten" versuchen, das Steuerrad der ukrainischen Gesellschaft an sich zu reißen, drohende Pogrome an Juden inklusive. Ja, wir sind uns bewusst, dass die politische Opposition und die Kräfte der sozialen Proteste im Land, die den Wandel zum Besseren sichergestellt haben, aus verschiedenen Gruppen bestehen. Sie schließen nationalistische Gruppen ein, aber selbst die marginalste von ihnen wagt es nicht, Antisemitismus oder Xenophobie offen an den Tag zu legen. Wir wissen zudem mit Sicherheit, dass unsere wenigen Nationalisten von der Zivilgesellschaft und der neuen Regierung bestens kontrolliert werden - das ist mehr, als man über die russischen Neonazis sagen kann, die von Ihren Sicherheitskräften noch angestachelt werden.

Verständigung ist bestens

Die gegenseitige Verständigung mit der neuen ukrainischen Regierung ist bestens, eine Partnerschaft wird gegenwärtig ausgearbeitet. Außerdem finden sich einige Vertreter nationaler Minderheiten im Kabinett: Der Innenminister ist Armenier, der Vizepremierminister ist Jude, zwei weitere Minister sind Russen. Auch die neuernannten Gouverneure der ukrainischen Regionen sind nicht ausschließlich Ukrainer.

Wir müssen allerdings einräumen, dass die Stabilität unseres Landes in den vergangenen Tagen unglücklicherweise bedroht worden ist. Und diese Bedrohung geht von der russischen Regierung aus, namentlich von Ihnen persönlich. Es ist Ihre Politik, Separatismus anzustiften und mit kruden Methoden die Ukraine unter Druck zu setzen. Das bedroht uns und alle Ukrainer, inklusive jener, die auf der Krim und im ukrainischen Südosten leben. Letztere werden das bald bei sich selber feststellen.

Wladimir Wladimirowitsch, wir schätzen Ihre Besorgnis über die Sicherheit und die Rechte der ukrainischen Minoritäten sehr hoch ein. Aber wir wollen nicht "verteidigt" werden, indem die Ukraine geteilt und ihr Territorium annektiert wird. Wir rufen Sie entschieden dazu auf, nicht in interne Angelegenheiten der Ukraine einzugreifen, die russischen Streitkräfte in ihre Stellungen zu Friedenszeiten zurückzubeordern und damit aufzuhören, prorussischen Separatismus zu fördern.

Wladimir Wladimirowitsch, wir sind durchaus in der Lage, unsere Rechte in einem konstruktiven Dialog und in Kooperation mit der Regierung und der Zivilgesellschaft einer souveränen, demokratischen und einigen Ukraine zu schützen. Wir fordern Sie dringend dazu auf, die Situation in unserem Land nicht zu destabilisieren und alle Versuche einzustellen, die neue ukrainische Regierung zu delegitimieren. (Josef Zisels, DER STANDARD, 22.3.2014)