Auch ihr neuer Roman zeichnet sich durch eine exakte und sinnliche Erzählweise aus: Melitta Breznik.

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Die neunzigjährige Margarethe, auf der Reise von ihrem Altersheim in Basel zu ihrem Kindheitsort, damals ein Dorf, nun ein Stadtteil von Frankfurt, erinnert sich: wie sie mit zwölf Jahren zur Vollwaise wurde, zu steifen und liebesarmen Verwandten nach Wien kam und dort den Krieg überstand; wie sie ihren Mann kennenlernte und 1951 eine Tochter bekam und wie diese Tochter sich von ihr entfernte und entfremdete.

Diese Reise soll sie nun wieder zusammenbringen: Tochter Lena, die jetzt als Designerin in London lebt, wird sie in Frankfurt abholen. Familienerinnerungen sind oft in doppeltem Sinn "geteilt": Gemeinsam Erfahrenes lässt sich unter ganz verschiedenen Perspektiven ins Gedächtnis zurückrufen. In Melitta Brezniks Roman wechseln daher die Erzählerinnen, und Lena, die sich in London auf den Flug vorbereitet, denkt auf ihre Weise an ihre Kindheit - und an viel unbewusste mütterliche Grausamkeit - zurück: Margarethe hat auf den Tod von Lenas Zwillingstöchtern ohne jede Empathie reagiert.

In den Lebensrückblicken beider Frauen geht es aber vor allem auch um Max, Margarethes Mann und Lenas Vater, und es kommt eine dritte Biografie ins Spiel: Max erlebt als "Schutzbündlerkind" den Februaraufstand von 1934, dem sein Großvater zum Opfer fällt, und wird nach Moskau in Sicherheit gebracht. Nach seiner Rückkehr wendet er sich enttäuscht von den Sozialdemokraten ab und meldet sich unter den Nazis freiwillig zur Wehrmacht. 1965 verliert er bei einem Unfall beide Beine und stürzt sich, ein Jahr später, aus dem Fenster.

In der diffizilen, aber sehr klaren Komposition des Romans verschachteln sich die von Margarethe und Lena erzählten Kapitel mit einem Bericht über Max'' Lebensstationen. Damit kommen auch sehr verschiedene Zeitebenen ins Spiel: Zwischen den Schock des Bürgerkriegs von 1934 und Max' letztes, von Albträumen und Depressionen überschattetes Lebensjahr schieben sich Passagen, die von seiner Stationierung in Griechenland 1944 berichten.

Und dort hat Max an Kriegsverbrechen gegen Zivilisten teilgenommen. Davon hat er seiner Familie niemals erzählt - ebenso wenig wie Margarethe von ihrem sie lebenslänglich quälenden Trauma, nach Kriegsende von Besatzungssoldaten vergewaltigt worden zu sein.

Überaus sensibel und genau handelt der Roman also von geteilten und ungeteilten Erinnerungen. Er geht den Spuren der "großen" Geschichte nicht nur in den Schicksalen kleiner Leute, sondern auch in ihrem Gedächtnis nach. Melitta Breznik, Psychiaterin und Psychotherapeutin, hat seit ihrem literarischen Debüt Nachtdienst von 1995 bewiesen, dass sie sich darauf versteht, wie sich seelische Erschütterungen speichern: "Davor habe ich Angst, daran will ich nicht erinnert werden", sagt Margarethe über das Erlittene, "aber ich weiß, all das liegt in meinem Körper begraben."

Trotzdem nehmen die Figuren mit ihren Lebensrückblicken gerade solch schmerzhafte Erinnerungsarbeit auf sich. Das bedeutet nicht, dass sie sich selbsttherapeutisch kurieren können; die Biografie, die sie sich entwerfen, bleibt, wie es einmal heißt, "die Chronik eines schleichenden Verlusts".

Dennoch geht es schließlich darum, Gedächtnis zu teilen, indem es mitteilbar wird: Margarethe besitzt als Andenken an ihre plötzlich verstorbene Mutter ein unfertiges kleines Gobelinbild, das eine lesende Frau darstellt; nie hat sie es über sich gebracht, an der Handarbeit der Toten weiterzusticken. Aber zuletzt möchte sie es ihrer Tochter schenken, mit der verschämten Einladung, Lena möge es zu Ende bringen.

Diese kleine Vignette spiegelt das Buch selbst zurück, das Textil den Text: Erinnerung soll weitergegeben und fortgeschrieben werden. Auf diese Weise entfaltet der Roman seine verschiedenen Facetten: Er erzählt von österreichischer Historie, bis zurück zum Ersten Weltkrieg, von dem Max'' Großvater berichtet; die Darstellung des Februar 1934 folgt dabei in jedem Sinn einer "Geschichtsschreibung von unten", indem sie aus der Perspektive des Kindes Max gegeben wird. Er ist, zweitens, eine Mutter-Tochter-Erzählung, ein Genre, das sich seit jeher der hochgradigen Ambivalenz dieser Beziehung gewidmet hat.

Dass Lena ihrer Mutter die Schuld am Tod ihres Vaters gibt, ist - jedenfalls vor dem Hintergrund jungianischer Psychologie - vollkommen plausibel; aber die Erzähltechnik der doppelten Stimmen läuft auf eine große Fairness hinaus, die es auch erlaubt, Margarethes Motive zu verstehen. Nicht zuletzt aber handelt der Roman vom Alter.

Ungemein eindrücklich sind die Passagen, in denen Margarethes physischer Verfall und die Furcht vor der Demenz geschildert wird: "Da gibt es plötzlich leere Räume, in denen ich mich aufhalte, wenn ich nach einem Ausdruck suche. Sie muss ich mit Ausdauer und List durchqueren."

Die Erfahrung, dass ein alter Freund nach dem anderen wegstirbt und dass die eigene Lebenszeit absehbar ist, wird ganz unpathetisch, aber umso wirkungsvoller wiedergegeben. Und Lenas Altersexperiment - sie lässt die Models ihrer Londoner Kollektionen in Simulationsanzüge und Brillen kleiden, die Beweglichkeit und Sehvermögen einschränken - führt die buchstäbliche Einfühlung auch des Lesers in den gealterten Körper herbei.

Melitta Brezniks Bücher sind immer wieder für ihre präzise und distanzierte Sprache gelobt worden. Ihr Stil hat gleichzeitig auch einen hohen Grad von Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit, so, wenn es um Naturszenen geht, um Düfte und Geräusche. Geradezu liebevoll-detailreich kann sich Lena ihre von Margarethe geschneiderten Mädchenkleider ins Gedächtnis rufen, und ihre Berufswahl stellt sich allmählich als eine ganz unaufgetrennte Mutterbindung heraus. Dass diese so exakte wie sinnliche Erzählweise gelegentlich durch Satz- und Interpunktionsfehler gestört wird, macht den einen Wermutstropfen dieses Buches aus und geht zulasten des Verlags: Ein Schriftsteller braucht nicht der Polizist seiner eigenen Sprache zu sein; aber gerade ein Text von solcher Dichte hätte ein aufmerksames Lektorat verdient.

Zu seinen Qualitäten zählen auch die Diskretion und Integrität seinen Figuren gegenüber. Nie werden sie bloßgestellt oder verurteilt, auch nicht Max, der von der Seite der Geschichtsopfer auf die der Täter gewechselt ist - auch er wird begleitet, als ihn seine Schuld einholt. Indem der Roman Margarethes und Lenas Erinnerungen mitteilt, hebt er auf, woran sie leiden: an der Unaussprechlichkeit dessen, was sie am tiefsten getroffen hat. Das familiäre Schweigen wird dabei repräsentativ für die österreichische Nachkriegsgeschichte. Der Roman macht sich damit selbst zum Gedächtnis einer Epoche, und das auf so luzide und eindringliche Weise, dass man sich wünscht, diese Leseerfahrung würde von vielen geteilt. (Konstanze Fliedl, Album, DER STANDARD, 22./23.3.2014)