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Muslimische Krimtataren beim Gebet in einer Moschee in Simferopol. Das von der russischen Bevölkerungsmehrheit mit Unterstützung Moskaus organisierte Anschlussreferendum wurde von der tatarischen Minderheit weitestgehend boykottiert.

Foto: Reuters/Peter

Neben 60 Prozent Russen und 24 Prozent Ukrainern sind die knapp 300.000 muslimischen Krimtataren mit zwölf Prozent auf der Krim nur eine kleine Minderheit. Im gegenwärtigen russisch-ukrainischen Konflikt spielen sie deshalb nur eine Nebenrolle. Die Position der Krimtataren ist eindeutig: Sie stehen geschlossen zum ukrainischen Staat und sprechen sich gegen den Anschluss der Krim an Russland aus. Wenn man nachfragt, nennen ihre Vertreter die Vertreibungen und Deportationen im zaristischen und sowjetischen Imperium, die als Traumata im historischen Gedächtnis tief verankert sind.

Stalinistischer Terror gegen Krimtataren

Die Krim wurde im Jahre 1783 von Russland erobert. Seit dem 15. Jahrhundert hatte das Khanat der Krimtataren, einer der Nachfolger des mongolischen Weltreichs, die Halbinsel und die nördlich angrenzenden Steppengebiete beherrscht und mit periodischen Einfällen in die Südukraine und Südrussland die Bevölkerung beraubt und zahlreiche Bauern gefangengenommen und als Sklaven ins Osmanische Reich verkauft. Obwohl die russische Regierung nach der Eroberung den Krimtataren zunächst ihren Grundbesitz garantierte, zog es ein bedeutender Teil der Bevölkerung vor, ins Osmanische Reich zu emigrieren. Unter russischer Herrschaft wurden immer mehr russische und ukrainische Bauern und deutsche Kolonisten auf der Krim und in den übrigen Gebieten nördlich des Schwarzen Meeres angesiedelt, und die Krimtataren wurden zusehends in unfruchtbare Randgebiete verdrängt.

Im Krimkrieg und im Russisch-Türkischen Krieg von 1877/78 gerieten die Krimtataren unter den Generalverdacht der Kollaboration mit den Türken, und erneut wurden zehntausende vertrieben oder wanderten aus. So wurden die Krimtataren zu einer Minderheit in ihrem Land.

In der Sowjetunion wurden zunächst die nationalen Minderheiten gefördert, und auch die Krim wurde eine autonome Republik, in der Krimtatarisch neben Russisch offizielle Sprache war und die Kultur der Krimtataren gefördert wurde. Diese Politik wurde bald aufgegeben, und zahlreiche Krimtataren fielen dem stalinistischen Terror zum Opfer.

Größte Katastrophe

Im Mai 1944 traf die Krimtataren die größte Katastrophe ihrer Geschichte. Stalin beschuldigte sie der Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht, die die Krim 1941 erobert hatte, und ließ innerhalb von zwei Tagen die gesamte krimtatarische Bevölkerung, etwa 190.000 Menschen, nach Zentralasien deportieren. Dabei kamen zehntausende ums Leben, und die gesamten Verluste infolge der Zwangsdeportation werden auf bis zu 40 Prozent der Gesamtbevölkerung geschätzt. Alle Spuren tatarischer Kultur auf der Krim wurden zerstört, die Krimrepublik aufgelöst, und selbst die Bezeichnung Krimtatar wurde verboten.

Die Krimtataren wehrten sich massiv gegen dieses Unrecht und entfalteten eine politische Kampagne, die die bedeutendste Widerstandsbewegung in der gesamten Sowjetunion war. Zwar wurden die Krimtataren im Jahre 1967 rehabilitiert, doch wurde ihnen die Rückkehr in ihre angestammten Gebiete verweigert.

Erst als in den vergangenen Jahren der Sowjetunion der politische Druck nachließ, begannen zahlreiche Tataren spontan in ihre Heimat zurückzukehren. Es kam zu zahlreichen Konflikten mit den ansässigen Russen, und den Krimtataren blieben oft nur die unfruchtbaren und entlegenen Gebiete.

Da die Krim seit 1954 zur Ukrainischen Sowjetrepublik gehört hatte, fanden sich die Krimtataren 1991 in der unabhängigen Ukraine wieder. In der Autonomen Republik Krim wurden sie als Minderheit und ihre Sprache als eine der drei offiziellen Sprachen (neben Russisch und Ukrainisch) anerkannt. Die ukrainische Regierung unterstützte in der Folge die Krimtataren und deren kulturelle Forderungen, und die Krimtataren wurden zu loyalen Staatsbürgern.

Historische Traumata

Dies erklärt, dass die Krimtataren auch heute auf der Seite der Kiewer Regierung stehen. Mit dem Anschluss an Russland verlören sie diese Protektion gegenüber der russischen Mehrheit. Die Erinnerung an die Vertreibungen und Deportationen lässt sie von Russland nichts Gutes erwarten. Moskau und die Regierung der Krim wären gut beraten, die Wünsche der Krimtataren zu berücksichtigen. Andernfalls würden sich die Krimtataren wie schon in der späten Sowjetunion zur Wehr setzen, und es ist nicht auszuschließen, dass islamistische Kräfte eingreifen und einen neben dem Kaukasus zweiten Konfliktherd im Süden Russlands schaffen würden. (Andreas Kappeler, DER STANDARD, 18.3.2014)